Gastbeitrag 16.10.2020, 08:30 Uhr

Die Verwandlung der Hidden Champions

Viele Unternehmen laufen unter dem Radar der Öffentlichkeit, leisten aber in ihren Bereichen Aussergewöhnliches. Die Transformationsprozesse rund um das Innovationsthema Connectivity stellen diese Firmen vor grosse Herausforderungen. Wie gelingt der Change?

Erfolgsfaktor Kooperation: Wer am Markt bestehen will, muss auf interdisziplinäre Teams setzen
(Quelle: Shutterstock/Jacob Lund)
Die DACH-Region ist voller sogenannter Hidden Champions, also Unternehmen, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind, aber in einer Markt­nische global zu den Top 3 gehören. Oftmals lösen ihre Produkte und Services Probleme, deren Existenz der breiten Bevölkerung gar nicht bekannt sind. Man denke hier an
Produkte, die zwar nur in einer bestimmten Branche unter bestimmten Bedingungen zum Einsatz kommen, dort aber unverzichtbar sind. Ihre Positionierung erlangen sie aus einer Mischung aus Innovations- und Qualitätsführerschaft, jedoch nie über Preisführerschaft. Diese Unternehmen sind mitunter ein Grund für unsere erfolgreiche und robuste Schweizer Wirtschaft.

Digitalisierung durch Vernetzung

Champions gewinnen dank Spezialisierung und Fokus – nicht nur im Sport, sondern auch in der Wirtschaft. Dies betrifft sowohl die Marktpositionierung als auch die Disziplinen, die beherrscht werden müssen, um das Produkt erfolgreich zu machen. Bei physischen Produkten sind dies meistens die Elektronik, die Mechanik sowie die Steuerungs-Software – immer kombiniert mit dem Spezial­wissen des jeweiligen Hidden Champions. So weit, so gut.
Dann kommt die Frage nach Connectivity, also Vernetzung. Wenn damit ein Mehrwert für die Endkunden erzeugt werden kann und das Vorgehen in ein nachhaltiges Geschäftsmodell passt, führt dies zu einer erfolgreichen Digitalisierung des Produkts. Und hier wird es spannend, denn bewusst oder unbewusst erfordert dieser Vorgang eine Transformation des Unternehmens.
“Interdisziplinarität ist zentral, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen„
Eric Roth
Es fängt harmlos an: Die Organisation benötigt noch zusätzliche Software-Entwickler, welche die Kommunikation und Datenaufbereitung übernehmen. Damit aus diesen Daten auch Mehrwert entstehen kann, müssen diese als Informationen in einer bestmöglichen Weise den Nutzern präsentiert werden. Somit müssen auch die Disziplinen User Experience und Frontend-Entwicklung vertreten sein. Und auch das Thema Cyber Security darf keinesfalls vernachlässigt werden, schliesslich sind diese Unternehmen am Markt insbesondere für ihre Zuverlässigkeit bekannt. Und prompt ist aus der Produktentwicklung ein komplexes, interdisziplinäres Projekt geworden. Und darauf sind die Hidden Champions für gewöhnlich nicht vorbereitet.

Schmerzhafte und zeitraubende Erfahrung

Zu Beginn werden die neuen Aspekte schlicht unterschätzt, denn aus der Ferne sehen alle Aufgaben kleiner aus als aus der Nähe: So entstehen Probleme und Verzögerungen im Projekt. Die Herausforderungen aus der Hardware (Produzierbarkeit, Lieferfristen, Zulassungen, Abkündigungen, Herstellungskosten) und Software (unklare Requirements, häufige Releases, Usability) kommen zusammen und ohne bewusste Steuerung addieren sie sich zu einem Problemknäuel, der nur schwer aufzulösen ist.
Ein Beispiel: Die Hardware ist zu Beginn nicht verfügbar, deshalb kann die Software nicht getestet werden. Ist die Hardware dann verfügbar, benötigt sie nur noch eine Iteration und ist soweit fast finalisiert. Die Software ist zu diesem Zeitpunkt jedoch noch weit davon entfernt, produktiv einsetzbar zu sein. Häufig wird nun Unverständnis über die vermeintliche Unfähigkeit der anderen Disziplinen geäus­sert. Nicht selten ist das Klima in diesen Projekten dann von korrosiver Energie geprägt. In diese Transformation un­bewusst hineinzuschlittern, ist eine schmerzhafte, kostspielige und zeitraubende Erfahrung.

Fünf Tipps für die Zusammenarbeit

Die gute Nachricht ist, dass es auch anders geht. Ein bewusster Umgang mit der neuen Komplexität und  der Interdisziplinarität ist sicherlich ein guter Anknüpfungspunkt. Insbesondere Unternehmen, die aus der physischen Produktwelt kommen, sollten folgende Punkte berücksichtigen:
  • Die Software-Entwicklung hat andere Bedürfnisse und Stolpersteine als die Hardware-Entwicklung. Die Vorteile der agilen Welt müssen auch in interdisziplinären Projekten angewendet werden. Bei Zühlke setzen wir beispielsweise auf die Methode System Scrum, die agile Ansätze, wo möglich, auch in der Hardware-Entwicklung anwendet und einen Rahmen für das Zusammenspiel zwischen Hardware- und Software-Entwicklung bietet.
  • Merke: In der Hardware gilt es, die Physik zu meistern. In der Software gilt es, die Komplexität zu bändigen.
  • Häufig kann beobachtet werden, dass die Kernkompetenzen eines Betriebs in einem Bereich liegen (beispielsweise in der Geräte-Entwicklung), sich das Kern-Know-how im Produkt jedoch in eine andere Domäne (zum Beispiel Steuerungs-Software) verlagert hat. Besonders gefährlich wird es, wenn das Unternehmen in diesem Bereich nicht ausreichend eigene Mitarbeitende aufweist.
  • Egal, ob Unternehmen Werkzeugmaschinen, Diagnosegeräte oder Kaffeemaschinen produzieren: Sie werden nun auch zu Software-Firmen. Wer sich dieser Tatsache bewusst stellt, kann frühzeitig richtige Entscheide bezüglich der zukünftigen Kernkompetenzen fällen.
  • Ein Streichquartett funktioniert anders als ein Symphonieorchester. Dem Dirigenten kommt bei Letzterem eine Schlüsselrolle zu. Es zeigt sich immer wieder, dass diese Führungspersönlichkeiten den wichtigsten Erfolgsfaktor in gemischten Projektteams darstellen. Unternehmen sollten sich bewusst solche Profis an Bord holen.

Interdisziplinarität führt zum Erfolg

Ich bin überzeugt davon, dass wir als Wirtschafts- und Innovationsstandort Schweiz eine hervorragende Ausgangslage haben, um das Orchestrieren der Disziplinen zu einer ausgeprägten Stärke unserer Unternehmen zu entwickeln. Wir verfügen in der Schweiz über sehr gut ausgebildete Fachleute in allen relevanten Bereichen. Interdisziplinarität virtuos zu beherrschen, ist längst kein Nice-to-have-Faktor mehr, sondern eine zentrale Fähigkeit, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen.
Denn diese Fähigkeit bietet auch die Chance zur Differenzierung: Ein Maschinenbau-Unternehmen konnte beispielsweise die Verkäufe seiner bestehenden Maschine massiv steigern, weil die Bedienbarkeit der neuen Software am Markt neue Massstäbe setzte. Je konsequenter und offener Unternehmen dieses Thema angehen, desto erfolgreicher werden sie im globalen Markt bestehen können.
Der Autor
Erich Roth
Zühlke
Erich Roth leitet den Geschäftsbereich Systems und ist Mitglied der Geschäftsleitung von Zühlke und Partner.
www.zuehlke.com


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