Autisten als IT-Fachkräfte 04.03.2019, 08:48 Uhr

«Wo andere Coder aufhören, geben unsere richtig Gas»

Effizienz, Akribie und Out-of-the-Box-Denken: Qualitäten, die Autisten oft mitbringen. Leider fallen sie häufig durchs Raster bei Bewerbungsprozessen von Unternehmen. Auticon führt beide Gruppen zusammen. Mit Erfolg, wie Schweiz-Chef Markus Weber im Interview erklärt.
Markus Weber, Geschäftsführer, Auticon Schweiz
(Quelle: Auticon Schweiz)
Auticon ist ein klassisches IT-Beratungshaus sowie ein IT-Dienstleister. Die Spezialisten arbeiten in den verschiedensten Feldern wie Software-Design, Testing oder Datenanalytik. Hinzu kommen Hot Topics wie künstliche Intelligenz.
Das Spezielle an dem Unternehmen sind seine Mitarbeiter: Auticon stellt für seine IT-Services ausschliesslich Personen aus dem autistischen Spektrum ein. Mit ihnen ist das Unternehmen erfolgreich am Markt unterwegs und will weiter wachsen.
Markus Weber, Geschäftsführer von Auticon Schweiz, erklärt, an welchen Projekten die Spezialisten arbeiten, wie die Kooperation mit den Kunden in der Praxis abläuft und was diese von ihren autistischen Partnern lernen können.
Computerworld: Sind Autisten die besseren Software-Entwickler?
Markus Weber: Meiner Erfahrung nach ja! Natürlich nicht alle, aber ich weiss von meinen Kollegen, dass sie sehr akri­bisch arbeiten. Sie investieren viel Zeit für die Planung, ehe sie programmieren. Sie entwickeln dann lieber kurzen und effektiven Code, der viel umsetzt und sich wieder­verwenden lässt, anstatt lange Zeilen «Spaghetti-Code» zu schreiben. Unseren Kollegen tut es richtiggehend weh, wenn man sich beim Coden umständlich ausdrückt.
CW: Woran liegt das?
Weber: An einem gewissen Zwang zur Akribie und zur einfachen Lösung. Das beginnt beim sauberen Programmieren und Erstellen eines hochwertigen Frontends und zieht sich weiter bis zur Dokumentation. Diese wird abschlies­send ordentlich an den Kunden übergeben: angefangen beim Rollenkonzept bis zum UX-Design. Wir werden oft von Kunden gerufen, um bestehende Systeme zu analysieren und zu dokumentieren. Beispielsweise, um Applikationen zu testen, den Code zu verbessern und zu verschlanken. Wichtig ist dabei, dass man seine Arbeit dokumentiert. Ich kenne viele nicht autistische Programmierer, die ungern dokumentieren. Unsere Mitarbeitenden lieben das. Für sie gehört es schlicht zur Gesamtaufgabe dazu.
CW: In welchen Bereichen zeigt sich diese Akribie noch?
Weber: Ein weiteres Beispiel sind komplexe repetitive Aufgaben, auch in Kombination mit mathematischen Methoden. Das können etwa Problemstellungen sein, wie das Kreditvergabesystem einer Bank oder Versicherungsmodelle, die komplexe Berechnungen beinhalten. Hier braucht es nicht nur IT, sondern ergänzend auch statistisch-mathematische Kenntnisse und es kann erforderlich sein, dass man den komplexen Code wiederholt testen muss. Zunächst manuell, dann automatisiert, bis alles umfassend geprüft und optimiert wurde. Während andere Entwickler oft nach wenigen Testreihen aufhören, fangen unsere Kollegen erst an, so richtig Gas zu geben.
CW: Inwieweit sollten IT-Firmen und IT-Abteilungen in Unternehmen grundsätzlich nach Autisten als Mit­arbeiter Ausschau halten?
Weber: Autistische Stärken in Teams zu haben, zahlt sich auf jeden Fall aus, insbesondere in der Software-Entwicklung. Hier sind Leute mit ausgeprägten analytischen Fähigkeiten gefragt, die sich auch mal acht oder neun Stunden lang konzentriert mit einem Problem auseinander­setzen können. Leider kollidieren diese Stärken mit den aktuellen Anforderungen der Arbeitgeber.
CW: Woran liegt das?
Weber: Unternehmen suchen Programmierer und verlangen von ihnen Kommunikationsstärke, flexible Zusammenarbeit in internationalen Teams oder dass man dem Senior-Management gern die jüngsten Ergebnisse erläutert. Ich kenne kaum einen Programmierer, der das gern macht, ob Autist oder nicht. Ich fände es gut, wenn sich Firmen wieder darauf zurückbesinnen würden, Mitarbeiter nach ihren wirklichen Stärken auszuwählen und nicht nur nach extrovertierten Networking-Persönlichkeiten zu suchen.
CW: Wie entstand die Firmenidee zu Auticon?
Weber: Unser Gründer Dirk Müller-Remus ist ein ehema­liger IT-Manager. Als bei einem seiner Kinder Autismus diagnostiziert worden war, setzte er sich mit dem Thema intensiv auseinander. Er stellte fest, dass es hochtalentierte Menschen im autistischen Spektrum gibt, die oft herausragende Qualitäten und Fähigkeiten mitbringen, aber trotz ihrer Skills arbeitslos sind. Müller-Remus gründete daraufhin ein Unternehmen für Autisten.
CW: Inwieweit sehen Sie Auticon als klassisches Consulting-Unternehmen? Wo grenzen Sie sich gegenüber sozialen Einrichtungen ab?
Weber: Wir sind wirtschaftlich orientiert und erhalten auch keine Zuschüsse. Wir wollen zeigen, dass unser Konzept am Markt funktioniert. Man könnte uns daher als Social Enterprise bezeichnen, da wir das Ziel verfolgen, möglichst viele Jobs für Autisten zu schaffen. Im Moment fokussieren wir auf Menschen, die kognitiv sehr begabt sind und einen Hintergrund oder zumindest starkes Interesse an IT mitbringen. Mitarbeitende müssen zudem mathematisch und statistisch arbeiten können. Damit decken wir im Autismusspektrum nur einen kleinen Teilbereich ab.
CW: Wie viele autistische Mitarbeiter beschäftigt Ihr Unternehmen?
Weber: In Grossbritannien, Deutschland, Frankreich und den USA beschäftigen wir aktuell fast 200 autistische Kolleginnen und Kollegen. Seit knapp einem Jahr sind wir auch hierzulande vertreten und beschäftigen 10 autistische Mitarbeitende, dieses Jahr wollen wir 25 weitere einstellen.
CW: In der ICT herrscht Fachkräftemangel und Ihre Mitarbeiter weisen zudem noch besondere Merkmale auf. Wie wollen Sie da an Mitarbeitende gelangen?
Weber: Wir schätzen, dass in der Schweiz rund 100 000 Menschen mit Autismus leben. Man muss hier natürlich differenzieren, denn die Spanne ist breit und jeder ist anders betroffen. Es gibt Personen, die sind vom Autismus sehr stark betroffen und tun sich in ihrem Alltag sowie am Arbeitsmarkt sehr schwer und diesen können wir mit unserem Modell aktuell leider nicht helfen. Am oberen Ende des Spektrums finden sich intelligente, teils hochbegabte Menschen mit herausragenden Fähigkeiten. Unter diesen suchen wir potenzielle Fachkräfte, die wir über verschiedene Kanäle erreichen. Neben der Medienarbeit gehen wir aktiv auf Interessenverbände und andere einschlägige Gruppen zu. Kürzlich hielten wir an der ETH einen Vortrag vor Studierenden aus dem autistischen Spektrum. Diese müssen aber Strategien für die Stressbewältigung ent­wickeln, damit sie in ihrem Studien- und Arbeitsalltag klarkommen. Sie haben zum Teil Schwierigkeiten, ihr Studium durchzustehen. Nicht weil sie fachlich nicht mitkämen, sondern wegen des anstrengenden Alltags. Es gibt daher unter Autisten viele Studienabbrecher, die ohne Abschluss wiederum schlechte Karten am Arbeitsmarkt haben.
Autismus
Gemäss dem Verband Autismus Schweiz stammt der Begriff «Autismus» aus dem Griechischen und bedeutet «sehr auf sich bezogen sein». Menschen mit einer autistischen Störung nehmen ihre Umwelt «anders» wahr als Nicht-Autisten. 
Autismus gibt es in verschiedenen Ausprägungen, die unterschiedlich bezeichnet werden:
  • Frühkindlicher Autismus
  • High-functioning Autismus
  • Atypischer Autismus
  • Asperger Syndrom
Oftmals können die einzelnen Formen aber nicht scharf voneinander abgegrenzt werden.  Es sind viele Mischformen und fliessende Übergänge zu beobachten, die sich in folgenden Punkten unterscheiden:
  • Schweregrad der autistischen Symptome
  • Allgemeine Entwicklung und Selbstständigkeit im Alltag
  • Das Alter beim Auftreten der ersten Symptome
Daher spricht man vom Autismus-Spektrum, das verdeutlichen soll, dass es sich beim Autismus um ein Kontinuum vom Symptomen und Schweregraden handelt.
CW: Wie rekrutierten Sie mögliche Mitarbeiter?
Weber: Wir haben eine Vorgehensweise entwickelt, die ohne klassische Methoden für die Ermittlung von Stärken und Schwächen der Mitarbeiter auskommt. Hierfür erarbei­teten wir ein Verfahren mithilfe der Universitäten Berlin und Cambridge, um die Fähigkeiten autistischer Bewerber zu messen, sowohl online als auch klassisch mit Papier und Stift. Wir wollen herausfinden, wie akkurat jemand arbeitet, wie stark sich die Person konzentrieren kann oder wie ausgeprägt die Fähigkeit ist, Muster in Datensätzen zu erkennen. Also Skills, die insbesondere in der IT wertvoll sind. Am Ende erhalten wir ein objektives Bild des Bewerbers. Unwichtig ist hingegen, wie gut sich jemand präsentieren kann. Klassischerweise ist es ja um­gekehrt. Jemand kriegt einen Job, weil er sich gut verkauft. Fachliche und kognitive Qualifikationen sind hingegen eher zweit- und drittrangig.
CW: Welche Hintergründe bringen Ihre Bewerber und Mitarbeitenden mit?
Weber: Das ist ganz unterschiedlich. Kürzlich stellten wir einen Kollegen ein, der 21 Jahre alt ist und noch seinen Master in Informatik abschliesst. Ein anderer ist 54 und kann bereits über 20 Jahre Berufserfahrung vorweisen. Wichtig ist, dass die Bewerber ein Interesse an IT haben und die Motivation, sich mit entsprechenden Aufgaben auseinanderzusetzen. Die meisten unserer Kollegen haben eine Ausbildung oder ein Studium mit IT-Hintergrund. Wir beschäftigen aber auch eine Bankkauffrau, die als Quer­einsteigerin zu uns stiess. Sie bringt eine unglaubliche Begabung im analytischen Denken mit und wir wissen, dass sie auch das Programmieren lernen will. Wir priorisieren die kognitiven Stärken unserer Mitarbeitenden und achten erst danach auf den Ausbildungshintergrund.
CW: Wie gestaltet sich der Arbeitsalltag Ihrer autistischen Kollegen, insbesondere bei den Kunden vor Ort?
Weber: Hierfür arbeiten wir mit Jobcoaches zusammen. Es sind Fachleute, die bereits mit Autisten zu tun hatten und unseren Kolleginnen und Kollegen im Job zur Seite stehen. Die Coaches bringen einen Hintergrund aus Bereichen wie Psychologie, soziale Arbeit oder Pädagogik mit. Auf sieben bis acht unserer IT-Consultants kommt ein Jobcoach. Diese informieren sich im Vorfeld beim Kunden über die Arbeitsbedingungen und begleiten den Einstieg unserer Spezialisten in ein Kundenprojekt. Am Anfang besuchen sie noch die ersten Meetings. Anschliessend agieren sie im Hintergrund, sind aber weiterhin greifbar, sowohl für unsere Mitarbeiter als auch für die Kunden.
CW: Worauf achten die Coaches dabei? Mit welchen Schwierigkeiten kämpfen Ihre Spezialisten?
Weber: Sie leisten vorbereitende Arbeiten und klären Fragen ab zu Klienten, Anfahrtswegen und Ansprechpartnern. Aber auch, wie der Arbeitsplatz beschaffen ist. Wir haben beispielsweise Kollegen, die visuell begabt sind und Fehler erkennen, ohne gezielt nach diesen suchen zu müssen. Nur können sie nicht unter Neonlicht sitzen. Die Lösung kann dann ein Schreibtisch sein, der sich zwei Meter daneben befindet, wo die Neonröhre nicht direkt herabstrahlt. Ein anderes Beispiel sind Grossraumbüros. Ich kenne niemanden, der sie mag.
CW: Ich auch nicht, allerdings sind Grossraumbüros heute der Standard.
Weber: Für manche unserer autistischen Kollegen ist so eine Umgebung derart störend, dass sie darin gar nicht arbeiten können. Deshalb klären wir im Vorfeld ab, ob der Arbeitsplatz in einem Grossraumbüro ist, ob es einen fixen Arbeitsplatz oder sogenanntes Hot Desking gibt und unsere Mitarbeitenden beim Kunden täglich neu einen Platz suchen müssen.
CW: Weshalb fragen Ihre Spezialisten nicht selbst, wahrscheinlich würden sie das noch viel exakter tun als Nicht-Autisten?
Weber: Manche unserer Mitarbeiter sind nicht selbst­bewusst genug, um alle Informationen einzufordern, die sie für ihre Aufgabe benötigen. Das übernehmen dann unsere Jobcoaches. Das fängt an bei fehlenden Berechtigungen und geht weiter mit, wie bezahlt man in der Kantine, oder ob es in Ordnung ist, wenn man bereits um 11:30 Uhr isst, weil einem später die Kantine zu voll ist. Obwohl das Team um 13 Uhr zum Mittagessen geht. Meist finden sich pragmatische Lösungen.
CW: Wie werden die Klienten auf Ihre Experten vorbereitet?
Weber: Auch hier unterstützen unsere Jobcoaches. Bevor wir mit einem Projekt starten, besuchen sie das Team des Kunden und klären es über Autismus auf und sprechen auch über die Eigenschaften und die Eigenheiten der jeweiligen Kollegen. Das hilft enorm. Es gibt Kunden, die nach einem halben Monat bereits auf uns zukommen und sagen, sie hätten sich die Zusammenarbeit schwieriger vorgestellt. Oder: Ihr Kollege ist besser und einfacher ins Team zu integrieren als mancher nicht autistische Mitarbeiter.
CW: An welchen Kundenprojekten arbeitet Ihr Unternehmen aktuell? Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich?
Weber: Im Bereich Data Quality Management sind wir für ein Unternehmen im Enterprise-Umfeld aktiv. Dort durchforsten wir grosse Datenbanken, prüfen im Detail Attribute von Daten und analysieren, inwieweit diese in das strategische Datenkonstrukt des Unternehmens passen. Wir haben einen Kollegen, der einen selbstlernenden Algorithmus geschrieben hat, um Tabellen miteinander zu vergleichen. Den Algorithmus trainierte er mehrere Wochen lang. Am Ende erhielt er Resultate, die den Kunden weiterbrachten, auf die man dort nicht gekommen wäre. Andere Kollegen haben bei einem Projekt grosse Datenmengen manuell untersucht und Muster erkannt, auf deren Basis sie Predictive Models mit Python programmieren. Für einen anderen Kunden analysieren wir Tickets und Logfiles, um vorhersagen zu können, was künftig in einer Applikation geschieht, was wiederum dem IT-Support helfen kann, die Anwendung proaktiver zu warten.
CW: Dann ist einer Ihrer Schwerpunkte also Big Data?
Weber: Genau. Dabei fällt uns auf, dass viele Unternehmen an Big Data rangehen und eine Software kaufen, ohne zu wissen, was die Software eigentlich vergleichen soll und welche Spezifikationen dafür benötigt werden. Unsere Spezialisten arbeiten leidenschaftlich gern über Wochen mit grossen Datenmengen und können anschliessend aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten darlegen, welche Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Daten bestehen, die man noch gar nicht berücksichtigt hat und die künftig in den Vordergrund gerückt werden sollten.
CW: Wer zählt zu Ihren Kunden hierzulande?
Weber: Wir können auf ein hochwertiges Netzwerk zurückgreifen und nutzen diese Kontakte für Aufträge. Zusätzlich gehen wir gezielt auf Unternehmen zu. Diese stammen aus unterschiedlichen Bereichen und sind verschieden gross. International arbeiten wir beispielsweise mit der Allianz, Virgin Money, KPMG, Linklaters, BMW und Siemens zusammen. In der Schweiz sind hauptsächlich grössere Banken und Versicherungen unsere Kunden.
CW: Weshalb genau diese Branchen?
Weber: Hier fallen viele Daten an, es gibt umfangreiche IT-Infrastrukturen, aber auch starke Reglementierungen. Ein solches Umfeld erfordert Fachleute, die exakt analysieren und prüfen. Nicht zuletzt gibt es in dieser Branche auch grosse Budgets für umfangreiche Projekte. Die IT-Teams solcher Betriebe sind meist homogen besetzt, also von Männern gleichen Alters und vergleichbarem Ausbildungs­hintergrund. Wenn man ein bis zwei Spezialisten aus dem autistischen Spektrum in ein solches Team integriert, erhält man ganz neue Blickwinkel.
CW: Woran liegt das? Unternehmen beschäftigen ja hauseigene Spezialisten, die sich mit den Systemen und Daten auskennen.
Weber: Unsere Fachleute bringen den Blick von aussen mit. Der Hauptgrund ist aber die andere Wahrnehmung von Autisten. Sie denken nicht Top-down etwa in Form von Prozessen, Subroutinen und Code. Stattdessen sehen sie sich gern zuerst den Code an und fügen sich dann selbst ein Bild zusammen, das sie von unten nach oben aufbauen. Sie beschäftigen sich mit den Details und fügen diese oft anders zusammen als Nicht-Autisten. Es entsteht quasi ein anderes Motiv aus den gleichen Puzzleteilen. Wir konnten etwa durch die Umstellung eines automatisierten Testprozesses die Hälfte der darin enthaltenen Abläufe elimi­nieren, da diese redundant wurden. Hierfür stellten wir lediglich das Verfahren um. Es gibt also viele Querdenker bei uns. Lässt man sie frei arbeiten, liefern sie tolle Ergebnisse.
CW: Beim Begriff Autismus denke ich an die Serienfigur Sheldon Cooper. Inwieweit begegnen Sie bei Ihrer Arbeit Klischeebildern und auch Vorurteilen?
Weber: Man trifft auf Schubladendenken. Manche sehen in Autisten gar den «Rain Man», der das Telefonbuch auswendig lernen kann, aber sozial so stark eingeschränkt ist, dass er weder kommunizieren kann, noch sich im Alltag zurechtfindet. So ein Bild bekommt man schlecht aus den Köpfen. Wir haben Mitarbeiter, die eigenständig leben, arbeiten und bei grossen Kunden ein- und ausgehen, die zwar sehr begabt sind, aber nicht das Telefonbuch auswendig lernen können oder wollen. Es sind smarte Menschen mit spannenden Eigenschaften, die aber manchmal in der Kommunikation und Interaktion mit anderen anecken. Sie sprechen nunmal alle sehr direkt.
CW: Offene und direkte Kommunikation ist doch heute explizit erwünscht in Unternehmen, oder etwa nicht?
Weber: Das heisst es zwar immer, doch das ist selten der Fall. Es passiert, dass ein Kollege einem Kunden sagt: «Ich habe zwölf Fehler in Ihrer Software gefunden und Ihre Krawatte passt nicht zu Ihrem Jackett.» Auch wenn die Kritik formal berechtigt sein mag, kann nicht jeder mit dieser Offenheit umgehen. Dass jemand direkt und unumwunden seine Meinung äussert, ist man in vielen Unternehmen nicht mehr gewohnt. Obwohl direkt ausgesprochene Kritik Abläufe verbessert.
CW: Wie sieht Ihre persönliche Vision für Auticon aus?
Weber: Ich würde mir wünschen, dass es unser Unternehmen in 50 Jahren nicht mehr gibt. Denn dann hätten viele andere Firmen verstanden, wie man Autisten und generell Menschen, die anders denken, direkt rekrutiert. Aber bis dahin dauert es wohl noch eine Weile. Wir sehen ja, dass unsere Kunden feststellen, dass ihnen Mitarbeitende mit Autismus einen deutlichen Mehrwert bringen. Die Unternehmen hätten unsere Mitarbeiter aber nie selbst ein­gestellt, weil beispielsweise das Studium an der ETH ab­gebrochen wurde – trotz zehn Jahren Programmiererfahrung. Es wäre schön, wenn Firmen feststellen würden, dass nicht immer eine formale Qualifikation oder ein Netzwerk benötigt wird. Wir versuchen, die grossen Schweizer Unternehmen zu motivieren, ein wenig über den Tellerrand zu schauen und mehr Querdenker einzustellen.
Markus Weber und Auticon Schweiz
Der studierte Diplom-Kaufmann Markus Weber startete seine Kar­riere beim Beratungshaus PwC, bevor er als Abenteurer mit dem Velo durch Afrika bis nach Togo fuhr. Seine Reiseerfahrungen veröffentlichte er in dem Buch «Ein Coffee to go in Togo». Anschliessend arbeitete Weber bei Auticon, wo er die deutschen und britischen Standorte mit aufbaute. Seit gut einem Jahr verantwortet Weber als Geschäftsführer den Schweizer Standort des IT-Dienstleisters. Weber lebt mit seiner Familie in Freiburg im Breisgau. In seiner Freizeit fährt er noch immer gern Rad und trinkt den Kaffee meist to go.
Zum Unternehmen
Auticon ist ein internationales IT-Beratungshaus. Das Unternehmen beschäftigt ausschliesslich Menschen im Autismusspektrum als IT-Consultants. Trotz des so­zialen Aspekts legt Auticon Wert auf seine marktwirtschaftliche Ausrichtung. In der Schweiz ist das Unternehmen vor rund einem Jahr gestartet und beschäftigt 10 Consultants. Dieses Jahr sollen weitere hinzukommen.



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