10 Jahre Parldigi 20.06.2019, 13:27 Uhr

«Wir bringen das Digitale auf die Politbühne»

Die Parlamentarische Gruppe Digitale Nachhaltigkeit ist aus der Digitalwirtschaft kaum mehr wegzudenken. Matthias Stürmer, Edith Graf-Litscher und Franz Grüter über die Highlights der letzten Jahre und ihre Standpunkte zu 5G, Open Data und E-Voting.
Sie engagieren sich für die digitale Nachhaltigkeit in Bundesbern (v.li.): Matthias Stürmer, Edith Graf-Litscher und Franz Grüter
(Quelle: Werner Rolli)
Eine altehrwürdige Atmosphäre herrscht im ehema­ligen Sitzungszimmer des Bundesrats. Dunkles Holz und Marmorvertäfelungen zieren die hohen Wände, die Fenster geben den Blick frei auf den Gurten. Im Zen­trum lädt ein kreisrunder Tisch zur Debatte. Wo einst die Schweizer Exekutive Entscheide traf, empfängt die Spitze von Parldigi zum Interview. Der Gesprächsort symbolisiert den Erfolg der Parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit, die sich abgekürzt auch Parldigi nennt.
Vor zehn Jahren lief ihr Gründer Matthias Stürmer durch das Bundeshaus auf der Suche nach Mitstreitenden. Heute ist die Gruppe, in der sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus allen Parteien zu ICT-Themen austauschen, diskutieren und Vorstösse vorbereiten, kaum mehr aus dem politischen Diskurs und der öffentlichen Debatte wegzudenken. Und es sind heisse Eisen, die Parldigi anpackt: Neben digital-politischen Dauerbrennern wie IT-Beschaffung, Open Source und Open Government Data sind es zunehmend Themen, die auch in weiten Teilen der Bevölkerung emotional hohe Wellen schlagen, wie beispielsweise die elektronische Abstimmung, der Ausbau des Mobilfunks oder die elektronische Identität. Nationalrätin und Co-Präsidentin Edith Graf-Litscher, Nationalrat und Co-Präsident Franz Grüter sowie Gründer und Geschäftsführer Matthias Stürmer sprechen im Interview über die harte Anfangszeit, die Highlights der letzten Jahre und ihre Standpunkte zu aktuellen Hot-Topics wie 5G, Open Data und E-Voting.
Computerworld: Zehn Jahre sind in ICT-Jahren schon fast eine Ewigkeit. Was war rückblickend das Beste in dieser Zeit, worauf sind Sie besonders stolz?
Matthias Stürmer: 2013 wurden wir mit dem Special Award des Branchenverbands swissICT ausgezeichnet. Das hat mich besonders gefreut. Denn damals galten wir noch als politische Underdogs. Zu der Zeit war die Gruppe ePower bereits aktiv. Das war eine andere Hausnummer als wir damals. Die hatten grosse Firmen wie IBM, Microsoft etc. als Partner. Ich dagegen irrte als Nobody im Bundeshaus umher auf der Suche nach Unterstützern, mit keinerlei Finanzierung, aber mit viel Idealismus. Als wir dann den Award erhielten, zeigte mir das, dass wir in der ICT-Branche wahrgenommen wurden und uns allmählich im Politikbetrieb etabliert hatten. Entsprechend freuen wir uns, dass Bundespräsident Ueli Maurer unseren Jubiläumsanlass besucht hat.
Edith Graf-Litscher: Auch der Besuch der anderen Grössen aus Politik und Wirtschaft ehrt uns. Es zeigt, dass wir mit Parldigi auf dem richtigen Weg sind und verschiedene Kreise aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ansprechen.
Parldigi-Geschäftsführer Matthias Stürmer leitet die Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit an der Universität Bern, wo er als Dozent, Forscher und Berater tätig ist
Quelle: Werner Rolli
CW: Bis dahin war es aber ein langer Weg. Wo begann dieser für Sie, wie haben Sie angefangen?
Stürmer: Vor zehn Jahren war die IT-Branche noch eine andere. Damals war das iPhone etwas Neues. In dieser Zeit gaben in der IT der Bundesverwaltung die grossen Hersteller den Ton an und die Behörden bezogen meist von ihnen direkt IT-Produkte und Services. Die kleineren Anbieter aus dem KMU-Segment hatten dagegen kaum eine Chance. Das wollte ich ändern und etwas gegen die freihändige Vergabe von IT-Aufträgen an die grossen Anbieter unternehmen. Ich stand hierzu in Kontakt mit Verwaltungsvertretern, die diese Probleme auch erkannt hatten und mir durch die Blume erklärten, dass ich politischen Support engagieren solle, denn sie selbst könnten wenig ausrichten.
CW: Und dann sind Sie einfach ins Bundeshaus marschiert oder was haben Sie unternommen, um sich Gehör zu verschaffen? Inwieweit interessierte man sich im Parlament überhaupt für Ihr Anliegen?
Stürmer: Vor zehn Jahren beschäftigte sich kaum jemand auf der politischen Bühne mit Informatik. IT hatte einfach zu funktionieren, so wie erwartet wird, dass das WC gereinigt ist. Erst mit der aufkommenden Diskussion über die Digitalisierung gelangte die ICT auf die Tagesordnung der politischen Debatte und beschäftigt seither auch den Bundesrat. Heute diskutiert man über die Möglichkeiten, welche die ICT bietet. Das widerspiegelt sich auch in der Zusammensetzung von Parldigi, in der sich IT-affine Politikerinnen und Politiker von links bis rechts im Parteienspektrum engagieren. Gemeinsam bringen wir Digitales auf das politische Parkett.
CW: Frau Graf-Litscher, Sie sind Co-Präsidentin von Parldigi und Mitglied der ersten Stunde. Wie wurden Sie auf Herrn Stürmer aufmerksam?
Graf-Litscher: Ich wurde 2005 als Nationalrätin ins Par­lament gewählt. Damals suchte ich nach einem Dossier, das noch niemand in der SP-Fraktion bearbeitete. Zu jener Zeit waren in der politischen Diskussion digitale Themen kaum präsent. Mich hat dieser Bereich hingegen sehr interessiert. Zu dieser Zeit kam Matthias auf mich zu, auf der Suche nach politischer Unterstützung mit dem Ziel, etwas im Bereich der digitalen Nachhaltigkeit zu unternehmen.
CW: Wie ging es dann weiter?
Graf-Litscher: Zu Beginn ging es um den Handlungsbedarf im Beschaffungswesen. Damals wurden zahlreiche ICT-Aufträge von Bundesstellen freihändig vergeben, ohne öffentliche Ausschreibung. Das war ein Startpunkt. Wir sahen aber auch Möglichkeiten für die digitale Nachhaltigkeit bei Open Source, Open Access, Open Data, E-Government, E-Voting, Bitcoin etc. Um unsere Themen im Parlament voranzubringen, schlug ich Matthias vor, eine parlamentarische Gruppe zu bilden. Dafür suchte ich ein bürgerliches Pendant, um die Gruppe auf einem politisch breiten Fundament aufzubauen. Mein erster Co-Präsident war Christian Wasserfallen von der FPD. Nach seinem Rücktritt übernahm im Frühjahr 2016 Franz Grüter das Co-Präsidium. Mit unseren Parteizugehörigkeiten bei SP und SVP repräsentieren wir die politische Breite von Parldigi.

Politisch breit abgestützt und themenfokussiert

CW: SP und SVP bilden die politischen Pole im Par­lament. Wie wirkt sich das auf Ihre Zusammenarbeit innerhalb von Parldigi aus?
Franz Grüter: Wir sind politisch eine sehr breit abgestützte Gruppe, in der alle Parteien vertreten sind. Es ist eben so, dass sich digitale Themen nicht in ein klassisches Rechts-links-Schema einordnen lassen. Wir arbeiten themenfokussiert. Das macht die Arbeit so spannend.
Graf-Litscher: Das ist eine zentrale Stärke von Parldigi. Wir diskutieren nicht über Sozial- oder Ausländerpolitik. Das gehört nicht hierher. Wir überlegen uns, wie sich die Schweiz gesellschaftspolitisch im digitalen Raum positionieren soll. Franz und ich ergänzen uns diesbezüglich. Er bringt als IT-Unternehmer die wirtschaftliche Sichtweise ein und ich die volkswirtschaftliche. Zudem bin ich ein Stück weit auch eine Vertreterin der Arbeitnehmenden.
CW: In der aktuellen Legislaturperiode sind bekannte Namen aus der ICT-Branche im Parlament vertreten. Inwieweit hat das digitalen Themen Vorschub gegeben?
Grüter: Leider ist die Situation die, dass die digitale Wirtschaft im Parlament massiv untervertreten ist. Wir sind knapp 20 Personen, die man im Parlament den digitalen Themen zuordnen kann. Wenn man das zum Beispiel mit der Bauern-Lobby vergleicht, für die 40 Leute im Par­lament sitzen und deren Anliegen vertreten, dann sind wir darauf angewiesen, dass wir zusammenarbeiten, um unsere Anliegen durchzubringen. Insofern ist die breite politische Abstützung bei Parldigi etwas Aussergewöhnliches.
“Die Digitalwirtschaft ist im Parlament massiv untervertreten„
Franz Grüter
CW: Sie sagen, dass Sie sich für volkswirtschaftliche Anliegen einsetzen, also auch für die Gesellschaft. Wie stark ist Parldigi in der Öffentlichkeit verankert?
Graf-Litscher: Wir werden regelmässig zu unseren Dossiers angefragt, auch von einem breiten Spektrum an Medien. Franz wird als Unternehmer, als VR-Präsident von Green identifiziert. Ich werde wiederum auch häufig als Co-Präsidentin von Parldigi angesprochen. Die Leute schätzen, dass wir die volkswirtschaftlichen Aspekte der Digitalisierung betrachten. Als wir anfingen, haben wir fast 100 Vorstösse eingereicht, um der Verwaltung einmal Dampf zu machen. Alle Vorstösse wurden zur Ablehnung empfohlen. Dann suchten wir das Gespräch mit verschiedenen Stakeholdern in der Verwaltung, in Unternehmen etc. Darauf folgte ein Wandel. Wir reduzierten unsere Vorstösse, suchten dafür mehr das Gespräch und den Dialog, auch an unseren Anlässen. Und auch am Digitaltag sind wir als Parldigi der Kontakt zur Politik. Das wird geschätzt. Die Veranstalter nehmen uns wahr als die Gruppe, die parteipolitisch breit abgestützt ist. Der Digitaltag ist ein gutes Beispiel dafür, an dem ich gemerkt habe, dass wir jetzt wirklich eta­bliert und anerkannt sind.
Grüter: Das Interessante ist ja, dass der Ursprung von Parldigi auf freihändige Vergaben von IT-Aufträgen zurückgeht. Das ist ein Thema, das die Wirtschaft nicht ohne Weiteres aufgreifen will. Denn auch die Anbieter befinden sich hier in der Abhängigkeit. Der Bund ist in der Schweiz der grösste IT-Auftraggeber, der jährlich Aufträge für rund 1,2 Milliarden Franken vergibt. Wirtschaftsvertreter wollen hier natürlich nicht ihren grössten Kunden angreifen. Wir sind hier ungebunden. Unsere Gruppenmitglieder sind eher frei denkende Leute mit wenig Abhängigkeiten. Wir können daher Themen aufgreifen, an die sich andere nicht heranwagen. Deswegen sind bei uns eher wenige Vertreter grosser IT- Unternehmen dabei, sondern vielmehr aus Gesellschaft, Bildung und Kultur. Es ist eine bunt zusammengewürfelte Gruppe an Leuten, die uns nebst den parlamentarischen Vertretern immer wieder mit Inputs zu digitalen Themen versorgen und sich einbringen.

Hot Topics bei Parldigi

CW: Welche Hot Topics haben Sie im Fokus und wie unterscheidet sich Parldigi hier von anderen Akteuren?
Grüter: Digitalisierung ist zu einem gesellschaftlichen Thema geworden. Die Gruppe für digitale Nachhaltigkeit reflektiert das. Wir sind kein verlängerter Arm der IT-Industrie, auch wenn ich als Verwaltungsratspräsident für ein IT-Unternehmen mitverantwortlich bin. Wir diskutieren kontrovers Themen, welche die Gesellschaft im digitalen Bereich betreffen. Wir beleuchten Risiken und zeigen Chancen auf wie etwa beim E-Voting oder bei der 5G-Technik.
CW: Die 5G-Technik wird heiss diskutiert. Einerseits wünscht man sich den Breitbandausbau, andererseits gibt es zum Teil starke Vorbehalte gegen den nächsten Entwicklungsschritt in der Mobilfunktechnik. Von privater Seite wurden Petitionen eingereicht; die Kantone Genf und Jura blockieren vorerst den Aufbau respektive die Aufrüstung von Antennen mit der 5G-Technik. Wie wollen Sie die Skeptiker von der Notwendigkeit und den Chancen des neuen Mobilfunkstandards überzeugen?
Grüter: Es wird uns nicht gelingen, die Gegner von 5G für uns zu gewinnen. Das ist auch nicht unser Ziel. Wir sind davon überzeugt, dass der nationale Breitbandausbau weiter vonstattengeht.
Franz Grüter setzt sich seit 2015 als Nationalrat im Parlament für die Anliegen der IT-Wirtschaft ein. Grüter engagiert sich als Co-Präsident von Parldigi und Vizepräsident des IT-Dachverbands ICTswitzerland
Quelle: Werner Rolli
CW: Woher nehmen Sie Ihre Überzeugung?
Grüter: Zu einem gut funktionierenden Land gehören für mich mehr als Eisenbahnen, Strassen und die Energie­versorgung, sondern auch die Telekominfrastruktur. Sie ist ein Erfolgsfaktor eines Landes. Mit Blick auf die Nachhaltigkeit und weil es die gesamte Gesellschaft betrifft, muss man unbedingt auch die andere Seite anhören. Die Diskussion um 5G ist aber emotional aufgeladen und schlägt entsprechend hohe Wellen. Weil es die Menschen so stark beschäftigt, haben wir das auch auf unsere Agenda gesetzt.
Graf-Litscher: Es ist wichtig, dass wir die Bedenken der Bevölkerung und den Schutz der Gesundheit ernst nehmen. Gleichzeitig gilt es, die Weichen für die digitale Infrastruktur in der Schweiz nicht aufs Abstellgleis zu stellen. Dazu ist es wichtig aufzuzeigen, was 5G wirklich ist und dass die Fakten bekannt sind. Mir ist es daher ein persönliches Anliegen, dass wir die Debatte versachlichen. Im Moment wird man nach einer Meinungsäusserung unmittelbar dem Lager der IT-Turbos oder der Gesundheitsfundis zugeteilt. Im Herbst sollten die Resultate der vom Bundesrat ein­gesetzten Arbeitsgruppe «Mobilfunk und Strahlung» sowie die geplante Einführung eines Monitorings für nicht ionisierende Strahlung, mit dem repräsentative Daten gesammelt werden sollen, vorliegen. Die Gruppe hat den Auftrag, die Bedürfnisse und Risiken beim Aufbau von 5G-Netzen zu analysieren und einen Bericht mit Empfehlungen zu verfassen.
“Wir müssen die Debatte um 5G versachlichen„
Edith Graf-Litscher
CW: Wie sehen Ihre Vorschläge aus?
Stürmer: Im September planen wir ein Open Hearing zu 5G. Wir wollen aufzeigen, welchen volkswirtschaftlichen Nutzen wir erwarten und welche gesundheitlichen Bedenken existieren. Dann werden wir sehen, wer am Ende die besseren Argumente bietet. Auf diese Weise wollen wir die Leute überzeugen, die Fakten auf den Tisch zu legen.
Graf-Litscher: Das sind wir der Bevölkerung schuldig, dass wir eine offene und sachlich-fundierte Debatte führen. Ich erwarte auch, dass das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der Ärzteverband (FMH) hinstehen und sich in der Debatte äussern. Hier ist auch die ICT-Branche gefragt. Sie muss anhand konkreter Beispiele die Möglichkeiten aufzeigen, die sich durch 5G ergeben und welchen volkswirtschaftlichen Nutzen die mobile Breitbandtechnik bringt. Hier passiert leider noch zu wenig. Vielmehr vertritt man noch die simple Position: Man braucht 5G. Aber die Menschen erwarten hier Antworten auf die Frage, weshalb wir 5G grundsätzlich benötigen.
Stürmer: Viele Anwender können mit 4G ihre Bedürfnisse befriedigen. Dadurch haben sie den Eindruck, dass es gar nicht mehr Leistung braucht, denn es läuft ja alles. Aber gerade bei Infrastrukturprojekten ist es wichtig, frühzeitig den Ausbau anzupacken. Hätten wir nicht schon vor rund 20 Jahren in 2G, 3G und zuletzt in 4G investiert, wären wir nicht so weit wie heute. Wenn wir in fünf bis zehn Jahren noch eine volkswirtschaftlich kompetitive Infrastruktur haben wollen, müssen wir heute investieren.
CW: Die Schweiz gilt als Pionierin beim 5G-Ausbau. Inwieweit drohen wir, den Anschluss zu verpassen und Nachzügler zu werden beim Breitbandausbau?
Grüter: Im internationalen Vergleich hat die Schweiz ein hervorragend ausgebautes Breitbandnetz. Sowohl im leitungsgebundenen Festnetz, wo es mit dem Glasfaserausbau auch noch einige Herausforderungen zu lösen gilt, als auch im Mobilfunk, wo wir ebenfalls gut dastehen. Aber es ist ein Wettbewerb! Wenn wir 5G jetzt nicht einführen, dann werden wir unseren heutigen Vorsprung in drei bis fünf Jahren eingebüsst haben. Das wäre für unser Land als attraktiver Standort schlecht.
Graf-Litscher: Ich habe den Eindruck, 5G ist für viele der Blitzableiter für die digitale Entwicklung. Sie sehen, dass es durch die Digitalisierung Veränderungen etwa am Arbeitsplatz gibt. Jetzt soll auch noch 5G dazukommen. Das ist manchen schlicht zu viel. Deshalb sagen sie: Jetzt ist Schluss. Mit 5G haben sie etwas Konkretes, wogegen sie protestieren können.
CW: Geht vielen Leuten die Digitalisierung einfach zu schnell und sind sie der Digitalisierung müde?
Graf-Litscher: Ich stelle fest, dass insbesondere ältere Arbeitnehmende verunsichert sind, etwa im Versicherungs- und Bankensektor, wo es starke Umwälzungen gibt. Und wenn dann noch Menschen ihre Jobs verlieren, löst das Ängste aus. Hier müssen wir dringend Lösungen finden, etwa in Form von Weiterbildungen und der Anstellung von Personen über 50 Jahren. Die Menschen müssen spüren: Ich bin ein wertvoller Mensch und es gibt auch weitere spannende Aufgaben für mich. Sie wollen arbeiten und nicht aufs Abstellgleis geschoben werden. Das müssen wir angehen.
Grüter: Im digitalen Bereich haben wir eine kontroverse Situation. Es gibt einen gewaltigen Bedarf an Fachkräften. Die Schweizer IT-Industrie beschäftigt total rund 200'000 Menschen, von denen zwei Drittel bei Banken, Versicherungen, Verwaltungen und in anderen Branchen beschäftigt sind. Zugleich ist die Digitalindustrie gewachsen. Sie ist heute der sechstgrösste industrielle Sektor der Schweizer Wirtschaft und generiert über 27 Milliarden Franken an Wertschöpfung pro Jahr. Das ist alles erfreulich. Doch wenn man sich den Arbeitsmarkt ansieht, zeigt sich, dass wir eine grosse Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer haben.
CW: Wie erklären Sie sich das und wie engagiert sich Parldigi im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit?
Grüter: Ein Grund ist historisch bedingt. Viele Firmen in der Branche entstanden Mitte der 1990er-Jahre. Sie haben damals Leute geholt, die zwar IT-Kenntnisse hatten, aber keine Diplome mitbrachten. Es gab ja auch noch keine IT-Ausbildungen, wie wir sie heute haben. Diese Leute haben ein Problem. Hierfür habe ich vor vier Jahren die Schweizerische Stiftung für Arbeit und Weiterbildung ins Leben gerufen, über die wir bis heute 500 Fachkräfte vermitteln konnten. Oft sind das Leute, die richtig Angst haben. Sie befürchten, nicht mehr gebraucht zu werden und weg vom Fenster zu sein. Sie haben verständlicherweise Vorbehalte gegenüber der digitalen Entwicklung. Wir haben hier eine gesellschaftspolitische Aufgabe zu lösen.

Unterschiedliche Meinungen zur E-ID

Edith Graf-Litscher ist Co-Präsidentin von Parldigi. Seit 2005 ist sie Nationalrätin der SP Thurgau. Graf-Litscher ist Mitglied der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen KVF und der Sicherheitspolitischen Kommission SIK. Zudem leitet sie das Präsidium von Glasfasernetz Schweiz
Quelle: Werner Rolli
CW: Die E-ID hat im Ständerat die Hürde genommen. Jedoch wünscht sich gemäss einer Umfrage von Demoscope im Auftrag der Digitalen Gesellschaft, Public­Beta und WeCollect der Grossteil der Bevölkerung eine staatlich herausgegebene E-ID. Wie bewerten Sie bei Parldigi die Entwicklung?
Graf-Litscher: Wir haben innerhalb von Parldigi unterschiedliche Meinungen zur E-ID. Geht man von dem Modell aus, dass die öffentliche Hand und die Privatwirtschaft jeweils Aufgaben wahrnehmen, finde ich es wichtig, dass man eine neutrale Aufsicht darauf hat. Es ist begrüssenswert, dass der Ständerat hier eine wichtige Anpassung vorgenommen hat. Künftig soll die Eidcom die privatwirtschaftlichen Herausgeber der E-ID überwachen. In der Eidcom sind der Preisüberwacher und der EDÖB engagiert. Mit der geplanten neutralen Aufsicht haben wir einen typisch schweizerischen Kompromiss erarbeitet.
Grüter: Unsere Positionen liegen gar nicht weit auseinander. So, wie man einen Pass oder Führerausweis besitzt, ist es auch im digitalen Raum enorm wichtig, dass man sich ausweisen kann und man aber auch weiss, mit wem man es zu tun hat. Insofern ist eine glaubhafte und anerkannte digitale Identität enorm wichtig. Die Schweiz hatte früher die Suisse ID, eine absolute Totgeburt, für die zweistellige Millionenbeträge verlocht wurden. Ein Grund war, dass nur wenige Unternehmen die Suisse ID anboten. Somit war sie für die Nutzer praktisch unbrauchbar.
CW: Aber weshalb sollte die E-ID jetzt Erfolg haben?
Grüter: Der jetzige Anlauf entstand auch aus der Erkenntnis heraus, dass eine digitale Identität nur dann funktioniert, wenn die Kerndaten beim Staat bleiben und wenn wir zusätzlich privatwirtschaftliche Herausgeber haben, die zugleich die E-ID auch einführen und akzeptieren. Auf diese Weise sollten wir rasch eine hohe Verbreitung der E-ID erleben. Von daher glaube ich, dass dieses Modell deutlich erfolgsversprechender ist als das erste. Jetzt hat man noch finale Kritikpunkte berücksichtigt und die Aufsichtsbehörde eingeführt.
CW: Aber?
Grüter: Ich bin mit dem jetzigen Konstrukt nicht ganz glücklich. Man hat die Behörde eingeführt, um das Referendum zu verhindern. Dabei ist es nur eine kleine Gruppe, die das Referendum will und sich davon auch nicht abbringen lässt. Sollte das Referendum zustande kommen, müssen wir den Leuten erklären, worum es genau geht. Es ist ein wichtiges Projekt, das den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land hilft, sich im digitalen Raum sicher zu bewegen.
Stürmer: Bei der E-ID sind wir im Rückstand gegenüber verschiedenen Ländern. Aus Sicht der digitalen Nach­haltigkeit wollen wir nicht, dass Banken unsere Identität definieren. Aber das ist ja nicht der Fall. Bei der aktuellen Vorlage hat der Staat die Aufsicht. Insofern kann ich aus Sicht von Parldigi sehr gut dahinterstehen.
CW: Wie konnten Sie sich in die Debatte einbringen?
Grüter: Parldigi hat eine entscheidende Rolle gespielt bei der Erarbeitung einer Lösung, die möglichst breite Unterstützung findet. Es waren Leute von uns, die gewissermas­sen als Mediatoren auftraten und Lösungen vorschlugen, wie etwa die nun geplante Aufsichtsstelle. Sie haben ruhig und diskret hinter den Kulissen mit den unterschiedlichen Stakeholdern diskutiert und ausgelotet, was es braucht, damit diese zustimmen können. Das Ergebnis ist nun der breit abgestützte Konsens.
Graf-Litscher: Die Arbeit für die E-ID ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir politische Geschäfte jahrelang begleiten.

Die Sache mit dem E-Voting

CW: Bei der E-ID ist man vorangekommen. Anders beim E-Voting. Herr Grüter, Sie haben sich gegen den Ansatz von Post und Bundeskanzlei ausgesprochen. Was stört Sie als IT-affiner Wirtschaftspolitiker am E-Voting?
Grüter: Ich bin nicht a priori gegen das E-Voting. Im Gegenteil: Ich hoffe sogar, dass wir irgendwann elektronisch abstimmen können. Aber wir dringen hier in einen sensi­blen Bereich vor. Denn es geht um die Wahlen und Abstimmungen in einem Land mit direkter Demokratie. Wir sollten wirklich sehr vorsichtig sein und darauf achten, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Auszählung von Wahlen und Abstimmungen als oberste Maxime weiter gilt. Mit dem jetzigen Setup ist die Zeit nicht reif für das E-Voting.
CW: Welche Probleme hat das E-Voting-System heute?
Grüter: Wir müssen höchste Anforderungen an die Technologie stellen. Die Bundeskanzlei will jedoch ein System einer spanischen Firma einführen, mit dem Spanien an den Europawahlen ein Debakel erlebt hat. Es wurden Stimmen falsch ausgezählt! In den Tests, welche die Post bei uns durchführen liess, stellten renommierte Experten fest, dass man Stimmen manipulieren könnte, ohne dass es auffällt. Aufgrund dieser Erkenntnisse durfte das System an der letzten Abstimmung nicht mehr eingesetzt werden. Ich hoffe, dass die Bundeskanzlei nun zu der Erkenntnis gelangt, dass sich etwas ändern muss. Ich selbst bin noch am Sammeln von Unterschriften für eine Volksinitiative. Ich hoffe aber, dass die Verwaltung von sich aus zum Schluss kommt, dass sie nachkorrigieren muss.
CW: Welche Initiative haben Sie geplant?
Grüter: Wir fordern ein Moratorium für das E-Voting für fünf Jahre. Anschliessend kann man es wieder einführen. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass bestimmte Bedingungen an die IT-Sicherheit erfüllt sind. Hierfür orien­tieren wir uns an anderen Ländern, wie etwa Deutschland, wo verschiedene Kriterien bereits vordefiniert wurden.
“Die Situation bietet eine Chance für den Neustart beim E-Voting„
Matthias Stürmer
CW: Inwieweit könnte Open Source zur Lösung beitragen, um aus der jetzigen Sackgasse herauszufinden?
Graf-Litscher: Die demokratische Glaubwürdigkeit darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Man muss die vorhan­denen Schwachstellen vertieft ansehen. Mit Kosmetik ist es nicht getan. An unserem ersten Anlass zum Thema E-Voting haben wir die Anforderungen definiert. Die Technologie muss sicher sein und der Quellcode offenliegen.
Stürmer: Die momentane Situation bietet eine gute Gelegenheit für einen Neustart. Wir können etwa auf dem offenen Quellcode aus dem Kanton Genf aufbauen.
Grüter: Nun kommt es auf den nächsten Schritt der Bundeskanzlei an. Wenn es einen kompletten Neuanfang geben sollte und man alles nochmal auf den Prüfstand stellt, dann müssen auch wir Gegner nochmal über die Bücher. Leider habe ich die Befürchtung, dass es mit dem aktuellen Zulieferer weitergehen wird.
CW: Parldigi bearbeitet mittlerweile zahlreiche Initiativen. Welche Bedeutung hat da eines der ursprüng­lichen Kernthemen, Open Data, für Ihre Gruppe?
Stürmer: Wir haben Open Data vor acht Jahren auf unsere Agenda gesetzt und mit viel Energie vorangetrieben. Als Ergebnis durften wir mit der Annahme einiger unserer Vorstösse erste politische Erfolge feiern. Aufgrund eines Postulats von Christian Wasserfallen gab es einen Bericht und einen Masterplan für Open Government Data. Später griff der Bundesrat das Thema auf und entwickelte eine Strategie, die letztes Jahr erneuert wurde. Die Daten werden online angeboten, wo sie von Anwendern heruntergeladen und kommerziell sowie nicht kommerziell genutzt werden können.
Graf-Litscher: Und jetzt wollen wir eine gesetzliche Grundlage zur flächendeckenden Einführung von Open Data!
“Wir wollen ein Gesetz zu Open Government Data„
Edith Graf-Litscher
CW: Sie haben hierzu Ende Mai eine Motion eingereicht. Worum geht es dabei genau, worauf zielen Sie ab?
Graf-Litscher: Der Bundesrat hat die Open Government Data Strategie verabschiedet und unterstützt darin im Kern unsere Anliegen. Allerdings will der Bundesrat selbst entscheiden, ob und in welcher Form eine gesetzliche Grundlage nötig ist. Hier werden wir dranbleiben. Denn durch Open Government Data eröffnen sich gewaltige Chancen für die Volkswirtschaft. Zudem brauchen auch die Mitarbeitenden eine gesetzliche Rückendeckung bei der Anwendung von Open Government Data.
CW: Aber wir verlieren ja auch Geld, wenn wir über Steuern finanzierte Daten allen gratis zugänglich machen, oder nicht?
Graf-Litscher: Man hat lange von finanziellen Ausfällen gesprochen. Vorausgesetzt, man betrachtet die verwaltungsinterne Verrechnung nicht, läge der Verlust aus den entfallenen Einnahmen von externen Nutzern im einstelligen Millionenbereich. Auf der Haben-Seite fördert Open Data auch das Vertrauen in den Staat. Wenn ich verlässliche Daten will, dann greife ich zu denen staatlicher Anbieter wie z.B. Swisstopo oder MeteoSchweiz. Mit beiden arbeiten wir übrigens sehr gut zusammen. Sie sind daran interessiert, dass Dritte mit ihren Daten arbeiten.
Grüter: Hier braucht es noch ein Umdenken. So, wie die Daten bisher kommerzialisiert wurden, generierte der Bund Einnahmen, etwa in den Bereichen Topografie und Meteorologie. Jetzt herrscht eine neue Philosophie vor, wonach man Daten allgemein offen zur Verfügung stellen möchte. Das ist ein Paradigmenwechsel, der noch Zeit benötigt. Wir versuchen, Open Data Schritt um Schritt voranzubringen.
CW: Im Herbst stehen wieder Wahlen an. Was erhoffen Sie sich für Parldigi?
Stürmer: Wir sind eine dynamische Truppe. Unsere parteipolitische Zusammenarbeit ist sicher ein Teil unseres Erfolgs. Auch wenn es unterschiedliche Meinungen gibt, findet man zusammen und entwickelt gemeinsam Lösungen, die am Ende alle weiterbringen und auf diese Weise den Menschen in der Schweiz etwas bringen. Wie es weitergeht, wird natürlich zum Teil auch von den Wahlen im kommenden Herbst abhängen. Wir hoffen, dass alle Parldigi-Mitglieder wiedergewählt werden.
Parldigi
Die Parlamentarische Gruppe Digitale Nachhaltigkeit
wurde 2009 von Geschäftsführer Matthias Stürmer gegründet und setzt sich für den digital nachhaltigen Umgang mit Wissensgütern ein. Hierfür reicht Parldigi parlamentarische Vorstösse ein, veranstaltet Dinner-Anlässe sowie Open Hearings. Schwerpunkte sind IT-Beschaffung, Open Government Data, Open Access, aber auch brandaktuelle Themen wie 5G, E-Voting oder Blockchain. Parldigi gehören nach eige­nen Angaben über 50 Politikerinnen und Politiker aus National- und Ständerat an aus allen Parteien. Das breite politische Spektrum ist eine der zentralen Stärken von Parldigi, wie Co-Präsidentin und SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher und ihr Amtskollege und SVP-Nationalrat Franz Grüter betonen.



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