Digital Leadership 22.02.2019, 10:30 Uhr

Mit Narrativen die Digitalisierung meistern

In der digitalen Transformation steht und fällt Führung mit dem, was bei Mitarbeitenden und Kunden ankommt. Das sind die Nutzererfahrung und die Geschichten, die den digitalen Wandel erklären. Für beides ist die richtige Digitalisierungslogik entscheidend.
(Quelle: Rawpixel / Unsplash)
Seit 50 Jahren digitalisieren wir in der Schweizer Wirtschaft und Verwaltung. Neu nennen wir das «digital transformieren». Was wir hierbei zu oft vernachläs­sigen, ist die Rolle der Technik in der Veränderung des Geschäftslebens. Die «Betroffenen» selber müssen verstehen, was passiert, damit sie gut mit der Entwicklung umgehen können. Das Erklären wird dann desinteressiert delegiert. Beispielsweise an die Wissenschaft, mit – in der Kultur der Netzsprache ausgedrückt – /dev/null als Übermittlungs­datei. Was dabei herauskommt, scheint vielen Entscheidern egal zu sein. Alternativ wird die Wissensvermittlung innerhalb von Projekten den Ingenieuren überlassen. Obwohl diese bereits vollauf damit beschäftigt sind, die technischen Aufgaben zu meistern.
Die Folgen dieser vernachlässigten Wissensvermittlung sind gravierend: Unverständnis bei den Endanwendern schafft Widerstände. Entsprechend wird viel Energie für Irrelevantes verbraten, es entstehen endlose Reibungs­verluste und die Ängste vor den Neuerungen lähmen Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Digitalstrategie.

Die Rolle der Narrative

Das sollten wir ändern. Je umfassender die Wirkung der digitalen Transformation im Unternehmen, desto wich­-tiger wird es, die Folgen der Technik für alle Anwender gut nachvollziehbar zu vermitteln. Hierfür eignen sich Geschichten, sogenannte Narrative, die drei kritische Eigenschaften besitzen. Sie müssen erstens zum Ist-Zustand des Unternehmens passen und die Veränderungen auf eine Weise wiedergeben, dass die Rolle der Technik erkennbar wird. Denn jeder weiss, dass ohne IT-Fortschritt keine Veränderungen passieren würden, weshalb technikfreie Erklärungen nicht überzeugend sind. Zweitens müssen die Narrative einen klaren Bezug zum Alltag von Kunden oder Mitarbeitenden aufzeigen, damit diese sie verstehen und das Gefühl haben, sie überprüfen zu können. Drittens müssen die Geschichten dabei helfen, die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen sowie zukünftige Veränderungen zu antizipieren und positiv zu interpretieren. Denn Veränderung bedeutet Stress und dessen Wirkung hängt entscheidend davon ab, ob man sich ohnmächtig fühlt oder subjektiv den Eindruck hat, Handlungsspielraum zu besitzen.
“Im Idealfall beziehen sich die Digitalisierungsgeschichten auf die Tradition„
Reinhard Riedl
Im Idealfall beziehen sich die Digitalisierungsgeschichten auf die Tradition und zeigen einen Weg in die Zukunft auf, der Ängste abbaut, ohne das Ausmass des Wandels zu verschleiern. Narrative mit den beschriebenen drei Eigenschaften sind deshalb so nützlich, da sie die Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft reduzieren.

Die IT als «Game Changer» verstehen

Die digitale Transformation eines Unternehmens ist ein komplexer, vielschichtiger Prozess unbestimmter Dauer. Diese Entwicklung hat meist schon vor langer Zeit begonnen, verändert aber zunehmend die eigentliche Geschäftstätigkeit, disruptive Veränderungen des Geschäftsmodells inklusive. Dabei geht es nicht um Technik. Oft verursacht die Technik nicht einmal beträchtliche Kosten. Trotzdem spielt der technische Fortschritt im Hintergrund eine übermächtige Rolle. Er gilt als «Game Changer», das heisst, er schafft für alle Akteure im Markt neue Handlungsmöglichkeiten. Diese verändern über kurz oder lang das Verhalten der Märkte, die Existenzgrundlagen der Unternehmen und die Möglichkeiten der Beschäftigung (Employability) der Mitarbeitenden. Darauf müssen Unternehmen und ihre Mit­arbeitenden früher oder später reagieren. Gute Digitalisierungsnarrative bieten hierfür eine wertvolle Orientierung.
Der IT-Fortschritt nimmt als «Game Changer» viele Gestalten an. Er führt unter anderem dazu, dass Dienstleistungen beliebig entbündelt, rekombiniert und persona­lisiert werden können. Durch ihn werden neue Ressourcen verfügbar, etwa in Form der künstlichen Intelligenz oder des Zusammenschlusses Gleichgesinnter zur sogenannten Crowd. Aber auch Schlüsselrollen in den Wertschöpfungsketten werden eliminiert. Dies führt zu immer mehr Gratis­angeboten und macht in vielen Märkten Unternehmen überflüssig. Das Grundprinzip hierbei lautet: Fast alles wird zu digitaler Information. Hierauf setzen zahlreiche gegenläufige Trend-Paare auf: Beispielsweise, den Staat und die Banken aus der Geldwirtschaft zu verdrängen mittels Blockchain-Technologien und der Gegentrend, staatlicherseits alle Geldflüsse zu kontrollieren durch einen automatischen Informationsaustausch. Die Auswirkungen vieler solcher gegenläufiger Entwicklungen sind noch unklar. Doch schon heute treten in der Wirtschaft digitale Wirkungsmechanismen in den Vordergrund, die bis vor Kurzem noch theo­- re­tische Modelle waren. Wir stehen also vor grossen Verände­rungen. Viele Unternehmen werden diese nicht überleben, während andere davon gewaltig profitieren werden.
Narrative sind ein wichtiges Führungsinstrument in Zeiten des Umbruchs, wenn sie zweierlei vermitteln: Dass die eigene Veränderung dringlich ist, weil der Markt sich verändert, und welche Zukunftschancen das Unternehmen durch die Digitalisierung erhält. Generisches Digitalisierungs-Blabla hilft wenig. Ein Verständnis aber, wie die IT konkret als «Game Changer» für das eigene Unternehmen wirkt, inspiriert zum Mitdenken und fördert das Engagement für das Neue. Solch ein Verständnis müssen die Digitalisierungsnarrative vermitteln.
Erläuterung
Ein Digitalisierungsnarrativ in fünf «Akten»
  1. Darstellung, wie Digitalisierung als Enabler in der Branche wirkt.
  2. Aufzeigen der möglichen negativen Folgen für die eigene Marktposition, um die Dringlichkeit der eigenen Veränderung zu vermitteln.
  3. Abstrakte Beschreibung der Digitalisierungs­chancen für das eigene Unternehmen.
  4. Konkrete Beispiele für mögliche Innovationen und Erläuterung der jeweiligen positiven Effekte für die Mitarbeitenden und Kunden.
  5. Formulierung einer gemeinsamen Zukunfts­perspektive für Unternehmen und Mitarbeitende.

Die richtigen Projekte auswählen

Um die Chancen nutzen zu können, ist es entscheidend, dass der digitale «Change» einer anderen Logik folgt als konventionelle Veränderungsprogramme. Und zwar in Bezug auf fast alles, insbesondere auf die Erfolgsmassstäbe und die Auswahl der Projekte sowie der Schlüsselpersonen. Der digitale Wandel wird dann und nur dann erfolgreich sein, wenn er aus einer Folge fokussierter, schnell durch­geführter Projekte besteht, von denen jedes einer Gruppe von Betroffenen einen klaren Nutzen bringt. Genügend viele dieser Projekte sollten einen massvoll experimentellen Charakter aufweisen. Und alle Projekte sollten vor Beginn sauber zu Ende gedacht und trotzdem agil durchgeführt werden. Denn es braucht beides: gutes traditionelles Engineering und einen offenen Projektablauf. Für echt experimentelle Projekte genügt sogar eine agile Projektstruktur nicht immer. Sie müssen zusätzlich mit spezifischen Instrumenten unterstützt werden, wie beispielsweise hypothesen­basiertem Projektdesign.
Manche werden hier einwenden, dass beispielsweise in Singapur mit grossem Erfolg ein anderes Vorgehen gewählt wird. Dort setzt man oft auf ein schwergewichtiges, ganzheitliches Top-down-Vorgehen, das alles und jeden mit einschliesst und insbesondere einen Einstellungswandel forciert, also das Denken des Einzelnen umgestaltet. Das funktioniert deshalb genügend schnell, weil Singapur eine völlig andere Gefolgschaftskultur besitzt als Mitteleuropa. Partizipation findet durch Mitmachen, nicht durch Mit­reden statt. Einige werden auch einwenden, dass man im partizipativ aufgestellten Mitteleuropa – insbesondere in der Schweiz mit ihrer halbdirekten Demokratie und in Deutschland mit seiner Mitsprachekultur in Unternehmen – auf ein breites Stakeholder Management setzen müsse, das alle mitnimmt. So ein Vorgehen ist aber viel zu langsam und bläst die Komplexität auf – ganz abgesehen davon, dass es monolithische Lösungen nahelegt. Es kann auch nicht durch radikale anglikanische Führungskonzepte – wie beispielsweise Förderung eines permanenten unternehmensinternen Wettbewerbs – beschleunigt werden. Denn das Schaffen von Dauerstress reduziert die Vertrauens­- basis und bremst den Wandel eher noch mehr.
Bei uns in Mitteleuropa funktioniert nur eines: Sorg­fältiges und konsequentes Tun in Form gut vorgedachter, fokussierter, massvoll experimenteller Projekte, die für einen Teil der Kunden oder der Mitarbeitenden konkreten Nutzen bringen. Diese Projekte sollten agil und schnell durchgeführt werden. Ergänzt werden sollte das Handeln durch das Lernen aus den Ergebnissen solcher Projekte. Dieser Outcome zeigt sich selten sofort nach Ende eines Projekts, sondern typischerweise erst zwei bis drei Jahre später. Schnelles Handeln sollte also nicht heissen, überhastet Schlüsse zu ziehen. Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass Durchhaltewille ein wichtiger unternehmerischer Erfolgsfaktor ist, insbesondere bei digitalen Innovationen.

Die richtigen Teams bilden

So gänzlich neu ist das alles nicht. Neu muss aber die Konsequenz im Handeln sein. Früher waren Projekte erfolgreich, die sich zu 60 bis 70 Prozent an Erfolgsfaktoren orientierten, heute muss jede grössere Abweichung durch extra hinzugegebene Exzellenz kompensiert werden. Vor allem gehört eines zwingend zu jedem erfolgsorientierten Projekt: die Antizipation der Auswirkungen auf die Betroffenen, ergänzt durch ein explizites Change Management. Die Umsetzung des digitalen «Change» ist zwar viel freier bei der Wahl der Inhalte als traditionelle «Change»-Praktiken, setzt aber gleichzeitig viel höhere Anforderungen an das Tun. Das Prinzip lautet «Langfristig und ganzheitlich denken – und temporär und lokal handeln!». Das ist anspruchsvoll.
Neu sind auch die Zusammensetzungen der Teams. Diversität ist in, Meinungsvielfalt im Projektteam ist out: Wo partizipative Einigungsprozesse notwendig sind, ist das Vorhaben gescheitert. Benötigt werden stattdessen Teams, deren Mitglieder die Ziele von vornherein vollumfänglich teilen und die Diversität in der Zusammensetzung dafür nutzen, um schneller vorwärtszukommen. Anders formuliert: Wir werden künftig bei den digitalen Vorreiterunternehmen immer mehr echte Hochleistungsteams erleben, wie es sie sonst nur im Sport und in der Kunst gibt. Diese Teams sind auf einer Linie in Bezug auf das Ziel und den Weg, aber heterogen in Bezug auf die Kompetenzen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen sehr viel mehr selbstverständlich ist und gleichzeitig sehr viel weniger formal geregelt wird als in konventionellen Teams in der Wirtschaft.

Die richtigen Abstriche wählen

Das Problem akademischer Ansätze zur digitalen Transformation ist häufig (wenn auch nicht immer), dass sie alles zu methodisch und zu perfekt machen wollen. Das vergeudet Ressourcen und führt sogar zu methodenbedingten Fehlentscheidungen. Das Problem mit allzu pragmatischen Ansätzen ist wiederum, dass sie meist konzeptionell zu unkritisch sind, was zu blauäugig entwickelten Plänen und zur Genauigkeit am falschen Ort führt. Wer erfolgreich sein will, sollte daher einen Weg zwischen beiden Arten der genannten Ansätze wählen. Alles von vornherein konsequent und ganzheitlich zu durchdenken, ist wichtig, daraus folgt aber nicht, alles vorneweg formal zu spezifizieren. Eigentlich bedeutet es nur, die Fortune zu besitzen, alles ge­nügend gut vorher zu durchdenken, sodass eine agile Projektführung zum gewünschten Erfolg führen kann.
Solch eine Fortune ist weder Zufall noch mit Methoden sicherzustellen. Sie ist vielmehr Ausdruck von Erfahrung und strategischem Talent. Eine damit verwandte strategische Frage ist die Gestaltung des Qualitätsmanagementplans: In welchem Bereich im Projekt wollen wir welche Qualität anstreben? Am Beispiel eines Software-Projekts formuliert: Wollen wir guten Code? Wünschen wir eine hochwertige funktionale Maschinerie beziehungsweise eine umfassende Business-Logik? Wollen wir ordentliche technische Schnittstellen? Verlangen wir hohe Usability? Brauchen wir eine konfigurierbare Applikation? Erwarten wir ein professionelles Einführungsmanagement und eine breite adressatengerechte Stakeholder-Kommunikation? Oder wollen wir sogar eine Partizipation der Stakeholder in unserem Lösungsdesign? Und so weiter.
Nur in ganz speziellen Projekten ist maximale Qualität sinnvoll. Wer alles richtig machen will, liegt damit fast immer grundfalsch, weil er Projekte zu sehr bremst. Eine Möglichkeit, um die strategische Frage «Welche Qualität?» besser zu verstehen, ist das Modell der technischen Schulden: Fehlende Qualität stellt technische Schulden dar. So wie finanzielle Schulden sind technische Schulden eine grundsätzlich sinnvolle Option, solange diese beherrscht werden, und ruinös, wenn sie überborden. Nur dass es sehr unterschiedliche technische Schulden gibt ohne standardisiertes Reporting und dass sie sich auch sehr direkt auf den Nutzen von Projekten auswirken. Während aber das systemweite Schuldenmanagement ein praktisch ungelöstes Problem bleibt, ist das Eingehen technischer Schulden in fokussierten Projekten und einer Microservices-Applika­tionslandschaft sehr viel besser beherrschbar. Es ist eine strategische Entscheidung mit beschränkten Nebenwirkungen. Das ist einer der Gründe, auf fokussierte Projekte zu setzen.

Die Nutzererfahrung muss top sein

Alles ist nichts – und jedes Narrativ wird unglaubwürdig –, wenn die digitalen Werkzeuge, die im Rahmen der digitalen Transformation entwickelt und eingesetzt werden, eine schlechte Nutzerfahrung (User Experience) vermitteln. Die User Experience ist gewissermassen das Proof-of-Narrative. Eine hohe Benutzerfreundlichkeit (Usability) neu eingeführter Tools und Prozesse muss ein grundsätzliches Ziel sein. Es ist in sehr vielen Projekten auch ein Schlüssel­faktor für dessen Erfolg.
Die Usability ist aber nur von geringer Bedeutung, wenn Software häufig und ausschliesslich von erfahrenen Personen benutzt wird oder wenn Applikationen ohnehin einen aussergewöhnlich hohen Grad an Arbeitsvereinfachungen bieten. Die User Experience stellt deshalb die situative Nutzungserfahrung ins Zentrum, die Benutzerfreundlichkeit mit einem Nutzwert verbindet. Im Idealfall wollen Anwender nach dem ersten ausführlichen Ausprobieren ihre neuen digitalen Werkzeuge nicht mehr hergeben – und daraus entsteht dann eine neue Digitalisierungsgeschichte.
Erklärung
Was sind Narrative?
Gemäss Wikipedia ist ein Narrativ eine sinnstiftende Erzählung, die Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Narrative sind keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einer Legitimität versehen sind.
Wichtige Eigenschaften von Digitalisierungsnarrativen:
  • Unternehmens-/marktspezifische, nachvollziehbare Erklärung der Rolle der Technik
  • Bezug zum Ist-Zustand des Unternehmens und zum Alltag der Mitarbeitenden/Kunden
  • Reduktion der Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft und Verhinderung von Ohnmachtsgefühlen/Hilfe, um die Zukunft zu antizipieren und positiv zu interpretieren
Unterschiedliche Arten von Narrativen:
  • Theater: Gleichgewicht ➤ Störung ➤ Krise ➤ Entscheidung ➤ Gleichgewicht
  • Typische Anwendung: Präsentation einer Unternehmensidee für Investoren, bei der die Schwierigkeiten für den eigenen Erfolg ausführlich beschrieben werden, bevor erklärt wird, wie man sie überwinden möchte
  • Populistische Digitalisierungserzählung: Darstellung der Endzustände der digitalen Transformation als Utopien oder Dystopien. Beispiel: Zukunftsbücher
  • Verwaltungsperspektive: Positive, sinnstiftende Zusammenfassung aktueller Aktivitäten, um diese zu legitimieren. Konkretes Beispiel: Strategie «Digitale Schweiz»
  • Amerikanische Leadership-Logik: Glaubwürdige positive Zukunftsperspektive, welche die Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft nimmt
Zum Autor
Reinhard Riedl
ist Präsident der Schweizer Informatik Gesellschaft. Riedl arbeitet als wissenschaftlicher Leiter im Departement Wirtschaft der Berner Fachhochschule, an der er das transdisziplinäre Forschungszentrum «Digital Society» führt.



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