Workplace im Wandel
17.01.2020, 06:00 Uhr

Nachholbedarf beim Arbeitsplatz 4.0

Die Arbeitswelt entwickelt sich rasant. Viele Schweizer Beschäftigte haben aber noch immer einen fest zugeteilten Arbeitsplatz. Ist das noch zeitgemäss? Experten sind sich einig: Firmen, die ihre Arbeitsplätze nicht aktiv gestalten, verpassen eine riesige Chance.
Moderne Arbeitsplatzkonzepte sind mehr als Wohlfühloasen für Mitarbeitende. Vielmehr ziehen sie Talente an und erhöhen nachweislich die Produktivität eines Unternehmens
(Quelle: Shutterstock / Jacob Lund)
Fluide Teams, flache Hierarchien, flexible Personal­planung. Der fortschreitende digitale Wandel hat die Geschäftswelt umgekrempelt. So stark, dass sich neue Begriffe etabliert haben, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf unseren Arbeitsalltag zu umschreiben: «New Work» und «Arbeitswelt 4.0». Das haben beispielsweise die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und das Expertennetzwerk Future Work Group erkannt.
Gemeinsam veröffentlichten sie Ende Oktober 2019 eine der schweizweit grössten Studien zum Thema Arbeitsplatz der Zukunft. «Offene Räume lösen Einzelbüros ab und dienen der gegenseitigen Sichtbarkeit der Mitarbeitenden und Transparenz», heisst es unter anderem in der Studie. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls von einem «strategischen Workplace-Design» die Rede.

Heimische Firmen haben Nachholbedarf

Der Untersuchung zufolge haben Schweizer KMU noch erheblichen Nachholbedarf und würden den positiven Einfluss einer aktiven Arbeitsplatzgestaltung auf ihre Wettbewerbsfähigkeit stark unterschätzen. Das konstatiert auch Lukas Windlinger Inversini, der an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) die Kompetenzgruppe Betriebsökonomie und Human Resources leitet. Die Digitalisierung habe den Umfang und die Geschwindigkeit der Herausforderungen im Geschäftsfeld vieler Unternehmen verändert. «Die Arbeitsorganisationen müssen Räume für Zusammenarbeit und Projekte zur Verfügung stellen», sagt Windlinger Inversini. Dabei gebe es auch neue Chancen für die Angestellten in Unternehmen, etwa bei der Einteilung und Wahl des Arbeitsorts und der Arbeitszeit.
Auf die Frage, ob Firmen genug über die Gestaltung ihrer Arbeitsplätze nachdenken, antwortet Windlinger Inversini: «Nein, in der Regel tun sie das nicht.» Viele Unternehmen würden nicht verstehen, dass die Arbeitsumgebung ein wichtiges Instrument zur Erreichung organisatorischer Ziele sei. «Die Gestaltung von Arbeitswelten beeinflusst die Zufriedenheit, die Arbeitsleistung und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden.» Wer sich um attraktive Arbeitsplätze bemühe, könne zudem die gewünschte Arbeitsweise nach aus­sen kommunizieren, was den Kampf um Talente erleichtere und die Arbeitgeberattraktivität erhöhe. Firmen könnten so bewusst Werte vermitteln und die Zusammenarbeit von Teams verbessern. Windlinger Inversini empfiehlt Unternehmen, ihre Arbeitsumgebungen aktiv zu gestalten und in ihre Geschäftsstrategie einzubetten.

Neues Büro = neue Kultur?

«Die gesellschaftlichen, technologischen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verändern sich rasch», sagt Andreas Wieser von Gesundheitsförderung Schweiz. Er berät Organisationen auf dem Weg in neue Arbeitswelten und ist Mitautor des Leitfadens «Gesundheitsförderliche Büroräume und Workplace Change Management». Es schade Unternehmen sicher nicht, wenn sie in der Organisation bezüglich Strategie, Struktur und Kultur möglichst flexibel seien, erklärt Wieser. Er betrachtet das Büro als Teil der strukturellen Rahmenbedingungen. Es diene in erster Linie den Arbeitsabläufen und sei ein Ins­trument, um unternehmerische Ziele zu erreichen. Eine aktive Gestaltung der Bürowelt könne für Unternehmen eine grosse Chance sein. Vor allem dann, wenn sie unter dem Aspekt der psychischen Gesundheit und des Arbeitsengagements betrachtet werde. Wieser betont allerdings, dass eine Veränderung der Firmenkultur nicht bloss mit einer Um­gestaltung der Büroräumlicheiten zu erreichen sei.
“Wenn sich die Strategie ändert, kann es für Firmen sinnvoll sein, auch die Arbeitsumgebung neu zu gestalten„
Lukas Windlinger Inversini, ZHAW
Zum gleichen Schluss kommt auch die Future Work Group in ihrer Arbeitsplatzstudie. Wesentlich für das Gelingen sei, dass man die Mitarbeitenden auch mit neuen Arbeitsmethoden und der genutzten Technik vertraut mache, betonen die Experten. «In der Gestaltung der Arbeits­umgebung manifestiert sich das Selbstverständnis einer Firma», bringt es Windlinger Inversini auf den Punkt. Wenn sich die Arbeitswelt, die Unternehmenskultur oder die -strategie ändere, könne es für Firmen sinnvoll sein, auch die Arbeitsumgebung neu zu gestalten. «Denn die Mitarbei­tenden verbringen nach wie vor viel Zeit im Büro.»

Es braucht klare Spielregeln

Bei der Neugestaltung von Büroräumen sind laut Arbeitsgesundheitsexperte Wieser folgende drei Dimensionen zentral: eine gesundheitsförderliche Bürogestaltung, der mitarbeiterorientierte Wandel sowie die Entwicklung der Kompetenzen von Mitarbeitenden und Führungskräften. Wieser weist darauf hin, dass es in den neuen Arbeitswelten noch wichtiger sei, auf die individuellen Stärken und Schwächen der Mitarbeitenden einzugehen. Um das zu erreichen, brauche es eine klare Strategie und Aufgabenverteilung. Auch die organisatorischen Rahmenbedingungen – etwa bezüglich Home Office und Arbeitszeitenregelung – seien zentral. Es gilt, ein Regelwerk aufzustellen, das klar nachvollziehbar ist, aber dennoch Flexibilität bei der Umsetzung bietet.
Was das bedeutet, konkretisiert ZHAW-Wissenschaftler Windlinger Inversini. Die Motivation für die Veränderung von Arbeitsumgebungen liegt meist im Business, also in den Hauptaktivitäten und Geschäftsstrategien der Unternehmen. Die Gestaltung der Arbeitsumgebung sollte daher die Anforderungen an die Zusammenarbeit im Unternehmen abbilden, welche die Geschäftsstrategie vorgibt. Der Wissenschaftler rät Unternehmen, sich nicht bloss auf eine Arbeitsweise festzulegen, sondern Wahlmöglichkeiten zu bieten. Etwa einen Mix aus Büroarbeit, Home Office, Co-Working und mobil-flexiblem Arbeiten. So sei es möglich, unterschiedlichste Bedürfnisse innerhalb des geschäftsstrategischen Rahmens abzudecken.

Das Team in den Prozess einbinden

Gemäss den Insights aus der Untersuchung  der Future Work Group und der FHNW sollte sich die Gestaltung des Arbeitsplatzes immer nach den zweck- und mitarbeiterorientierten Bedürfnissen richten. Diese sind naturgemäss in jedem Unternehmen unterschiedlich. «Mitarbeitende sollten bei der Gestaltung ihrer Arbeitsmittel deshalb immer eingebunden werden», fordert die Future Work Group. Auf diese Weise könne ein Unternehmen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Mitarbeitenden verschiedene Bedürfnisse akzeptieren und in Folge ein gemeinsames Verständnis für eine tragfähige Kollaboration erarbeiten.

Kultur berücksichtigen

Die Computerworld-Redaktion sprach auch mit Matthias Thalmann, der als Partner im Bereich Human Capital Consulting bei Deloitte in Zürich tätig ist und Unternehmen bei der Transformation ihrer Arbeitswelten begleitet. Er ist ebenfalls der Meinung, dass Unternehmen, die ihre Arbeitsplätze nicht aktiv gestalten, eine grosse Chance vergeben. Organisationen, welche die nötigen Schritte gehen, würden bei der Transformation jedoch oft vergessen, auch ihre Arbeitskultur und -struktur anzupassen. Es sei zwar gut und richtig, dass Firmen die Neugestaltung der Arbeitsräume auch ohne unmittelbare Veränderung der Arbeitsmodelle anpacken. Der volle Nutzen werde aber nur in der Kombination erreicht.
“Future of Work heisst, dass vier oder mehr Generationen gemeinsam die Zukunft gestalten„
Matthias Thalmann, Deloitte
Thalmann empfiehlt, als Lösung aktivitätenbasierte statt starre Arbeitsplatzkonzepte zu entwickeln. Diese würden den Wandel der Arbeitswelt wesentlich erfolgreicher unterstützen. Am Anfang jeder Reise zur Umgestaltung brauche es eine übergeordnete und kohärente Strategie. «Future of Work heisst, dass vier oder mehr Generationen gemeinsam die Zukunft gestalten.» Ein gesamtheitliches Konzept helfe, diese zusammenzubringen. Firmen sollten das Voneinanderlernen in den Vordergrund stellen und diesbezüglich die Stärken jeder Generation betonen, sagt Thalmann.

Fixe Arbeitsplätze – ein Auslaufmodell?

Gemäss Untersuchungen des Beratungshauses können 72 Prozent der Schweizer Beschäftigten ihre Präsenzzeit flexibel halten. Jedoch erhielten 42 Prozent der Angestellten dafür aber keine digitalen Geräte. Ein Widerspruch, der behoben werden sollte, fordert Thalmann.
Und nicht nur das ist ein Widerspruch: Laut dem Consulting-Haus haben über drei Viertel der Schweizer Beschäftigten einen festen Arbeitsplatz. Ist das noch zeitgemäss? «Nein», sagt ZHAW-Forscher Windlinger Inversini. Denn fixe Arbeitsplätze seien nur teilweise belegt. An einem durchschnittlichen Arbeitstag bleibe rund die Hälfte unbenutzt. Dafür gebe es viele Gründe. Etwa Teilzeitarbeit, Arbeit aus­ser Haus oder bei Kunden, Krankheiten, Ferien und Militärdienst. Unternehmen benötigten bei einer Arbeitsplatz­strategie mit fixen Arbeitsplätzen mehr Fläche als notwendig – und hätten trotzdem Platzprobleme. Wenn Teams wachsen, müssten oft mehrere Mitarbeitende umziehen, damit die neuen Teammitglieder einen Arbeitsplatz in der Nähe des Teams erhalten. «Flexible Arbeitsplatzmodelle mit nicht persönlichen zugeordneten Arbeitsplätzen bieten hier deutliche Vorteile», rät Windlinger Inversini.
«Fixe Arbeitsplätz spiegeln in den meisten Fällen die starren Strukturen und Silos im Unternehmen wider», stellt dagegen die Future Workplace Group fest. Da zukünftige Formen der Zusammenarbeit zunehmend projekt- und nicht mehr organisationsbezogen seien, würden fixe Arbeitsplätze an Bedeutung verlieren. Sie widersprächen zudem dem Wunsch nach mehr Unabhängigkeit von Ort und Zeit. Dass sich Millionen von Menschen täglich durch den dichten Berufsverkehr zu ihren Arbeitsplätzen quälen, belaste überdies die Umwelt und sei ein Verschleiss wertvoller Ressourcen in Form von Zeit und Energie. «Wichtig ist, wie das Arbeiten gelebt wird», sagt Wieser. Eine bestmögliche Unterstützung sei dann gewährleistet, wenn eine Vielfalt an Arbeitszonen – je nach Tätigkeit, persönlichen Vorlieben und Tagesplanung – zur Verfügung stehe.

Management muss vorangehen

Auf die Frage, ob neue Arbeitsplatzkonzepte nur funktionieren, wenn Sie das Management selbst anwendet, antworteten alle Befragten mit einem klaren «Ja!». Deloittes Thalmann beispielsweise fordert von Führungskräften, flexibles Arbeiten nicht nur zu unterstützen, sondern auch vor­- zu­leben. «Ich wünsche mir, dass die Vorgesetzten den Mut und die Offenheit finden, sich mit einer Modernisierung des Arbeitsplatzes auseinandersetzen.»
Das Top-Management müsse sich hierfür von seinem Verständnis der Zusammenarbeit lösen, sagt die Future Workplace Group. «Vorleben ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor.» Entscheidend sei jedoch, inwieweit es den Führungskräften gelinge, ihren Mitarbeitenden mehr Entscheidungs- und Gestaltungsräume zu überlassen. «Das fordert von den Führungskräften sehr viel Energie», sagt Wieser. Sie müssten sich ausser den neuen Führungsprinzipien – zum Beispiel Führung auf Distanz oder Vertrauen statt Kontrolle – auch neue Kompetenzen aneignen. «Führungskräfte müssen ausprobieren, lernen, erklären, coachen und vor allem auch Platz schaffen, um die Erfahrungen im Team auszutauschen.»
Wichtige Faktoren seien der Arbeitsumfang, Störungen und Unterbrechungen, Zeitdruck oder Über- und Unterforderung. Aber auch soziale Faktoren wie das Team oder die Art und Weise der Führung hätten einen wesent­lichen Einfluss auf die Gesundheit. Die Rahmenbedingungen wie Büro, Arbeitsmodell und IT-Infrastruktur seien ebenfalls wesentlich für die Gesundheit und die Motivation der Mitarbeitenden, schliesst Wieser.

Fazit

Die Resultate wissenschaftlicher Forschung zeigen unterm Strich auf, dass die Arbeitsumgebung die Arbeitsleistung beeinflusst. Wichtige Faktoren sind dabei die Qualität der Arbeitsumgebung, mögliche Störungen und Ablenkungen sowie die Möglichkeit, für verschiedene Arbeitsaktivitäten unter verschiedenen Arbeitssettings wählen zu können.
Wenn die Arbeitsmodelle und -räume optimal aufeinander abgestimmt seien, würde die Produktivität langfristig steigen, prophezeit die Future Workplace Group. Lediglich während der Neuausrichtung könne die Produktivität kurzfristig zurückgehen. Ist diese Phase überwunden, steigere sich das Wohlbefinden der Mitarbeitenden und damit auch die Arbeitsfreude und -leistung.
Zusammenfassung
Tipps für einen besseren Arbeitsplatz
  1. Genug Platz: Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) nennt auf seiner Website ergonomische Mindestanforderungen für Arbeitsplätze. Es sollte immer genug Arbeitsfläche vorhanden sein. Das Seco empfiehlt eine Mindestgrösse von 160 × 80 cm pro Arbeitsplatz.
  2. Höhenverstellbare Stühle: Stühle müssen laut dem Seco in der Höhe verstellbar sein. Stuhl und Tisch sollten so eingestellt werden können, dass die Füsse fest auf dem Boden sind und der Mitarbeitende die Tastatur mit locker hängenden Schultern bedienen kann.
  3. Raum für Bewegung: Je besser der Arbeitsplatz eingerichtet ist, desto kleiner ist das Risiko körperlicher Beschwerden. Dazu gehört auch, dass die Mitarbeiter sich frei bewegen können. Auch um die Arbeitsfläche herum brauche es genug Bewegungsraum, so die Forderung des Seco.
  4. Genug Licht: Unternehmen sollten dafür sorgen, dass es an jedem Arbeitsplatz genug Licht hat. Mit einem Mix aus natürlichen Lichtquellen (Fenster) und künstlicher Beleuchtung. Eine gute Arbeitsplatzbeleuchtung vermeide direkte oder indirekte Blendungen, so das Seco.
  5. Sicht ins Freie: Arbeitsplätze sollten laut dem Seco und dem Gesundheits- und Umweltdepartement der Stadt Zürich eine Sicht ins Freie bieten. Sie muss über Fensterglas auf Höhe von mindestens 1,2 Metern für sitzende und 1,5 Metern für stehende Tätigkeiten möglich sein. Arbeitsplätze seien wenn immer möglich in Fensternähe anzuordnen.
  6. Stolpergefahr vermeiden: Laut der Suva sind Stolpern und Stürzen die häufigsten Unfallursachen in der Schweiz. Das Seco fordert, dass Firmen eine Arbeitsumgebung ohne Stolper- und Sturz­gefahren schaffen. Dabei gilt es unter anderem vor allem darum, auf herum­liegende Kabel zu achten.



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