Interview mit Amorana-Mitgründer Alan Frei 24.01.2020, 09:07 Uhr

«Mit Mobile Shopping beginnt das Spiel bei null»

Amorana-Mitgründer Alan Frei geniesst die Unabhängigkeit. Mit Liebesspielzeugen, als mittlerweile erfolgreicher Unternehmer und als Minimalist. Im Interview zeichnet er den Weg in die Unabhängigkeit nach.
Alain Frei gründete gemeinsam mit Lukas Speiser vor fünf Jahren den Online-Shop Amorana
(Quelle: Samuel Trümpy)
Amorana-Mitgründer Alan Frei verdient gutes Geld mit dem Glück seiner Kunden. Sie kaufen ihm Sex-Spielzeuge ab. Wie er im Interview sagt, macht ihn das Unternehmertum und die dazugehörige Freiheit auch selbst glücklich. Allerdings hat er auf dem Weg in die Unabhängigkeit auch viel Lehrgeld zahlen müssen. Denn Amorana ist längst nicht sein erstes Start-up. Und er muss sich auch trotz des Erfolges in den neuen Zeiten des Mobile Commerce weiterhin täglich beweisen, sagt Frei der Computerworld.
Computerworld: Wie kam es vor rund fünf Jahren zur Gründung von Amorana?
Alan Frei: Aus der gemeinsamen Studienzeit in Zürich kannte ich Lukas Speiser. Er war seinerzeit bei Goldman Sachs beschäftigt, ich habe diverse Start-ups gegründet – mit eher mässigem Erfolg. Weder ein Mango-Schnaps, eine Nachhilfeplattform, ein Taxi-Vermittlungsportal noch ein Trading-Tool für Facebook haben funktioniert. Eines Tages im Jahr 2013 rief mich Lukas an und sagte, er sei auf der Suche nach etwas Neuem. Fortan telefonierten wir regelmässig und fragten gegenseitig Gründungsideen ab. Während eines Treffens diskutierten wir – in Anlehnung an das Socken-Abonnement von Black Socks – ein Abo für Sex-Spielzeug. Wir beide hatten eine Studie ge­lesen, laut der 90 Prozent der Frauen und 80 Prozent der Männer gerne im Bett mehr ausprobieren möchten, sich aber nicht trauen, den Partner zu fragen. Dieses Bedürfnis wollten wir mit dem Abo befriedigen: Kunden bekommen einmal pro Monat ein Paket mit Sex-Spielzeug.
Daraufhin haben wir eine Webseite gestaltet und unsere privaten E-Mail-Kontakte gesammelt. Alle bekamen eine anonyme Nachricht mit einer Offerte. Drei haben tatsächlich etwas gekauft. Das brachte uns in die Bredouille, denn wir hatten kein einziges Produkt. In unserer Not kauften wir im Magic X am Limmatquai in Zürich alle rabattierten Waren, lösten die Etiketten ab, verpackten die Produkte in neutrale Pakete und verschickten sie. Wenige Tage später erreichten uns Reklamationen: Wir hätten unter anderem abgelaufene Waren verschickt. Daraufhin haben wir uns zu erkennen gegeben und den Käufern erklärt, dass wir ein neues Business ausprobieren. Sie kritisierten zwar den ano­nymen Test, reagierten aber ansonsten verständnisvoll und lobten unsere prinzipiell gute Geschäftsidee.

CW: Wie sind Sie weitergefahren?
Frei: Wir haben einzelne Produkte ausgewählt und sie in neutrale Kartons verpackt. Während dieser Zeit lief gerade der Film «Fifty Shades of Grey» an. Der Kinostart hatte so etwas wie einen «Starbucks-Effekt»: Dort wird nicht der beste Kaffee der Welt ausgeschenkt, aber es ist hip, einen Kaffee dort zu trinken.Genauso ist «Fifty Shades of Grey» nicht der beste Film der Welt, aber er regte Hunderttausende dazu an, Sex-Spielzeug auszuprobieren. Dafür waren unsere Pakete optimal.
Die noch junge Firma operierte weiterhin von der Privatwohnung von Lukas aus. Dort trafen täglich die Sendungen der Grosshändler ein. Allerdings wurden die Lieferungen immer zahlreicher und die Pakete immer grösser. Eines Tages klingelte der Pöstler und teilte uns mit: Die heutige Sendung sei zu gross, er könne sie nicht bis an die Wohnungstür im ersten Stock liefern. Am Strassenrand stand ein Paket mit Sex-Spielzeug, das eine halbe Tonne wog.
CW: Ihre Pakete enthielten weitere Artikel für Paare. Und die Auswahl haben Sie getroffen.
Frei: Genau. Wir haben Einzelprodukte beim Grosshändler eingekauft, sie in kuratierten Paketen neu verpackt und an unsere wachsende Anzahl Kundinnen und Kunden verschickt. Allerdings wurde ab einem gewissen Zeitpunkt die Wohnung zu klein für das Geschäft. Und wir zwei konnten auch das Auftragsvolumen nicht mehr selbst stemmen. So zügelten wir zunächst nach Zürich West, dann nach Opfikon. Und stellten Mitarbeiter ein. Rund sechs Jahre später, also heute, beschäftigen wir 30 Personen.
CW: Waren Sie schon Vollzeit mit Amorana beschäftigt?
Frei: Nein, ich war noch nebenberuflich tätig an der Universität Zürich. Dort habe ich mitgeholfen, ein Start-up-Zentrum aufzubauen. Weiter war ich noch mit mehreren anderen kleineren Projekten befasst, sodass ich mich nicht hundertprozentig auf Amorana konzentrieren konnte. Das war ein grosser Fehler. Denn im To-do-Listen-Modus tanzt man auf vielen Hochzeiten, aber auf keiner so richtig.
Zur Person
Alan Frei
gründete nach seinem Bachelor in Finanzwissenschaften von der Universität Zürich mehrere Start-ups. Er ist ausserdem Mitinitiant des Start-up-Zentrums an seiner Ausbildungsstätte. Gemeinsam mit Lukas Speiser lancierte Frei im Jahr 2014 den Sex-Toy-Shop Amorana.ch. Während der vergangenen fünf Jahre amtete er als Mitinhaber und Geschäftsführer des Amorana-Betreibers Bluebox Shop.

Der Durchbruch mit Amorana

CW: Wann sind Sie mit Amorana durchgestartet?
Frei: Vielleicht ein halbes Jahr nach dem ersten Test mussten wir mit dem Shop auf Drängen von Lukas’ damaliger Freundin aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen. So zügelten wir und gaben auch noch unsere Jobs auf, um uns vollkommen auf Amorana konzentrieren zu können. Mit dem Ziel, weiter zu wachsen, suchten wir nach Möglichkeiten, um die Popularität unserer Webseite zu erhöhen.
Es war Ende Sommer, also eine Zeit, in der ein neuer Jahrgang junger Männer in die Rekrutenschule eingezogen werden sollte. Die rund 15'000 Rekruten liessen vielleicht 10'000 Freundinnen allein zurück. Diese Zielgruppe haben wir versucht, mit einem «Rekruten-Paket» anzusprechen, das die Männer kostenfrei an ihre Freundinnen schicken konnten. Über einen Kollegen konnte ich erreichen, dass die Medien über das Angebot berichteten. Anschliessend sind die Zugriffszahlen unserer Webseite durch die Decke gegangen. Anstatt 10 Bestellungen pro Tag mussten wir plötzlich 1300 Orders in der Stunde erfüllen. Damit hatten wir ein gewisses Level erreicht, auf dem wir aufbauen konnten.
CW: Welchen Fehler würden Sie beim nächsten Mal unbedingt vermeiden?
Frei: So viele! Die drei grössten Fehler waren aber erstens der – schon erwähnte – fehlende Fokus. Zweitens haben wir uns anfangs sehr schwergetan bei der Zusammensetzung des Teams: Wir waren der Meinung, dass ausschliesslich unsere eigene Arbeitsweise richtig ist. Irgendwann mussten wir aber Arbeit abgeben – und auch Verantwortung. Als wir zwölf Angestellte hatten, konnten wir den Mitarbeitern noch unseren Stil aufzwingen, als es noch mehr Leute wurden, klappte das nicht mehr. Unser Learning war: Wir müssen nicht immer recht haben und auch unsere Ansätze sind nicht immer optimal. Denn es ging nicht um uns als Person, sondern um das Geschäft. Wir mussten gute Leute einstellen und ihnen die Freiheiten geben, damit sie ihre Arbeit machen können. Dieses Learning war extrem schwierig für uns. Denn: Ein guter Unternehmer ist nicht automatisch auch eine gute Führungsperson.
CW: Sie haben ein drittes Learning erwähnt...
Frei: Genau. Ich glaube zutiefst daran, dass eine gute Geschäftsidee entscheidend für den Erfolg ist. In der Start-up-Szene dominiert die Meinung zum Beispiel von Oliver Samwer [Gründer Rocket Internet, Teilhaber Zalando; Anmerkung der Redaktion], demzufolge der Idee nur ein Prozent des Erfolges zuzuschreiben ist. Alles andere ist die Umsetzung. Meine Einschätzung ist, dass die Geschäftsidee einen viel grösseren Anteil hat: Fifty-fifty würde ich sagen.
Alan Frei von Amorana sieht das Mobile Shopping als nächste Grosse Herausforderung des Handels
Quelle: Samuel Trümpy
CW: Eine Vorreiterin in Ihrem Business war Beate Uhse. Die Pionierin spielt heute keine Rolle mehr. Was hat das Unternehmen falsch gemacht?
Frei: Das Problem von Beate Uhse ist kein spezielles Pro­blem unserer Branche. Vielmehr sind alle Detailhändler mit der neuen Welt des Online-Handels und noch neuer des Mobile-Handels konfrontiert.
Als etabliertes Unternehmen mit Retail Stores sah Beate Uhse Anfang der 2000er-Jahre das Internet aufkommen. Die ersten Online-Shops wurden eröffnet, die Konkurrenz wuchs. Das Management entschied sich aber, das Internet zu ignorieren und weiter auf den Retail zu setzen – hauptsächlich mit der Begründung der besseren Beratung vor Ort. Später wurde dann doch ein Online-Shop lanciert, der aber nur rudimentäre Funktionen und identische Preise bot. Wenn die Kunden dann verglichen, stellten sie fest, dass Beate Uhse teurer war als die Online-Konkurrenz. So verloren sie die Konsumenten.
Für eine adäquate Multi-Channel-Strategie braucht es den Mut, das eigene Geschäft durch den Online-Handel zu kannibalisieren. Und den Mobile-Handel gleich nochmal. Dieser Mut fehlte vielen etablierten Händlern, darunter Beate Uhse und auch zum Beispiel MediaMarkt. Wir stehen jetzt an der Schwelle, dass die Kunden zukünftig mehrheitlich auf dem Smartphone einkaufen. Damit beginnt das ganze Spiel wieder bei null: Die Navigation ist anders, die Darstellung der Produkte ist schwierig und die Auswahl ist eingeschränkt.

Die Herausforderung Mobile Commerce

CW: Wird Mobile Commerce zur nächsten Herausforderung für die Online-Shops?
Frei: Ich denke schon. Wir sind in der vergleichsweise glücklichen Situation, dass heute schon 80 Prozent unseres Traffics auf Smartphones generiert wird. Damit fokussieren wir schon jetzt voll auf Mobile.
Uns kommt schon heute der Umstand zupass, dass die Kunden tagsüber zwar auf der Desktop-Seite surfen. Während der Bürozeiten kauft allerdings niemand Sex-Spielzeuge ein. Vielmehr shoppen die Kunden dann anschlies­send auf dem Nachhauseweg mit dem Smartphone.
CW: Mit welchem Verlust rechnen Sie durch die Umstellung auf Mobile Shopping?
Frei: Die Umstellung auf Mobile ist schon im vollen Gange. Und sie ist auch nicht die grösste Herausforderung für uns. Viel schwieriger ist es, die Kunden zu erreichen. Denn obwohl wir das bekannteste Start-up der Schweiz sind – 47 Prozent der Bevölkerung kennt uns, die Winterthurer Biermarke Chopfab nur 43 Prozent –, sind wir zu wenig präsent.
Ausserdem sind unsere Produkte eigentlich nicht optimal für den Online-Vertrieb. Denn Sex-Spielzeug will man vor dem Kauf in die Hand nehmen. Aktuell wählen wir deshalb den umgekehrten Weg der etablierten Player: Wir haben im Glattzentrum einen Retail Store eröffnet. Dort sammeln wir Erfahrungen mit dem Einkaufsverhalten der Schweizer Konsumenten. Denn meine Hypothese ist, dass die Kunden nicht online einkaufen wollen. Sondern sie wollen einkaufen, egal wo. Am Samstag wollen sie die Läden besuchen und Ware in die Hand nehmen, am Sonntag wollen sie Produkte online bestellen und am Montag auf dem Weg ins Büro shoppen sie auf dem Mobile.
CW: Wer sind Ihre Lieferanten? Sind das Grosshändler wie Alibaba oder die Hersteller selbst?
Frei: Anfangs haben wir ausschliesslich bei Grossisten eingekauft, sowohl in Deutschland als auch in Holland. Mit diesen Waren machen wir zwischen 40 und 50 Prozent unseres Umsatzes. Je länger, je mehr beziehen wir die Produkte aber auch direkt vom Hersteller. Der «Womanizer» ist so ein Beispiel: Wir sind mittlerweile der grösste Anbieter in der Schweiz.
Der nächste Entwicklungsschritt ist die Eigenproduktion. Wir sind selbst Hersteller einfacher Sex Toys. Denn hier lockt eine attraktive Marge. Spannend in unserer Branche ist die Absenz wirklich grosser Brands. In der Mobiltelefonsparte beherrschen Apple, Samsung, Huawei, Nokia etc. den Markt. Die starken Marken bedeuten eine hohe Marge für den Hersteller selbst. Fehlen die Brands – wie zum Beispiel bei Bondage-Sets oder Handschellen – bleibt die Marge beim Handel. Es entwickeln sich zwar mittlerweile einige Marken, darunter Fun Factory, Lelo oder Womanizer, aber sie beherrschen noch nicht so stark den Markt wie im Mobilfunk.
CW: Welche Produkte vertreiben Sie mittlerweile unter der Eigenmarke bei Amorana?
Frei: Wir haben vor etwa anderthalb Jahren mit einfachen Produkten angefangen, die keinen Motor benötigen, beispielsweise Dildos. Dann sind wir in den Markt für Vibratoren eingestiegen, die zwar einen Motor besitzen, aber sehr standardisiert sind. Weiter haben wir eine Bondage- und eine Sex-Toy-Marke. In beiden Bereichen ist der Markt noch nicht besonders gut entwickelt. Das gilt übrigens auch für den Bereich der Sex-Spielzeuge für Männer. Hier erwägen wir, selbst einzusteigen.
CW: Welche Weiterentwicklung planen Sie kurz- oder mittelfristig für Ihr Geschäft?
Frei: Wir wollen das Business mit dem «Sexual Wellbeing» forcieren. Hier geht es darum, die Sexualität mit der Gesundheit zu kombinieren. Ein Produkt aus dieser Sparte ist bereits einer unserer Top Seller: der Ava Fertility Tracker vom gleichnamigen Schweizer Start-up. Ein anderes Beispiel ist der Beckenbodentrainer «Elvie», mit dem nach Schwangerschaften App-gesteuert trainiert werden kann. Generell haben wir Produkte rund um das Thema Schwangerschaft neu ins Sortiment aufgenommen. Ausserdem neu bei Amorana sind Aids-Tests für den Heimgebrauch.
CW: Dann ist aber Ärger mit dem Bundesamt für Gesundheit und den Apotheken vorprogrammiert...
Frei: Ich denke nicht. Wir dürfen diese Produkte problemlos verkaufen. Allenfalls müssen wir dann noch etwas umstellen bei Lager und Versand. Aber damit rechnen wir auch.

Die Bedingungen für Jungunternehmer

CW: Sie haben eben erwähnt, Amorana sei mittlerweile das bekannteste Start-up der Schweiz. Sie sind selbst noch viel länger als Gründer unterwegs. Wie haben sich in der Schweiz die Bedingungen für Jungunternehmen verändert in den vergangenen Jahren?
Frei: Mitte der 2000er-Jahre war die Start-up-Szene eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft. Ausserdem waren die Jungunternehmer fast ausschliesslich in Zürich West zu Hause. Heute haben unter anderem auch Bern, Lausanne und nicht zuletzt Zug mit dem Crypto Valley eine Szene. Hier in Zürich sind es Tausende Leute. Ich begrüsse das, denn es bringt die Schweiz voran.
Hier will ich den Finanzmathematiker Nassim Taleb zitieren: Er sagt, Unternehmertum sei «antifragil». Im Kontrast dazu sind Banken fragil, denn wenn ein Institut in Schieflage gerät, reisst es die anderen mit. Das «antifragile» Unternehmertum hat den Effekt, dass ein gescheitertes Start-up zwar unschön ist, aber alle anderen aus den Fehlern lernen können. Wenn heute viel mehr Personen den Schritt in die Selbstständigkeit gehen, gibt es zwar auch mehr gescheiterte Versuche, aber auch viel mehr zu lernen.
Das Scheitern führte früher zu einem Stigma: Investoren haben damals einen grossen Bogen um diejenigen Gründer gemacht, die schon einmal mit ihrem Unternehmen gescheitert waren. Mittlerweile suchen die Geldgeber solche Leute schon fast, denn sie haben den früheren Fehler ja nicht bezahlen müssen. Der Gründer weiss dagegen bereits, was nicht funktioniert und warum.
CW: Erwächst tatsächlich langsam eine Fehlertoleranz  bei den Unternehmern in der Schweiz?
Frei: Ja, eine Fehlertoleranz entsteht. Ich erachte diese Entwicklung als sehr wichtig, denn sie fördert die «Antifragilität». Da ich sehr offensiv mit meinen Fehlern umgehe und über meine Erfahrungen gerne berichte, kann ich die Entwicklung an einem konkreten Anlass festmachen: den «FuckUp Nights». Ich war Sprecher am ersten Treffen im November 2015 im Cabaret Voltaire im Zürcher Oberdorf. Damals habe ich vor 20 Teilnehmern referiert. Die grösste «FuckUp Night» fand in diesem Jahr im Kraftwerk Zürich statt. Dort waren über 1000 Leute.
Amoranas Alan Frei erkennt kaum finanzielle Hürden für Jungunternehmer
Quelle: Samuel Trümpy
CW: Sind die Gesetze und Regularien heute besondere Hürden für eine Gründung?
Frei: Ein Gründer muss sich selbstverständlich an die Gesetze halten. Wie erwähnt ist allerdings meine Devise: «Ask for forgiveness, not for permission.» Das gilt insbesondere für die frühe Gründungsphase, wenn das Start-up für den Markt quasi noch irrelevant ist. Wenn das Unternehmen wächst, ist es unabdingbar, gute Anwälte zu haben. Sie müssen sich dann mit den Gesetzen beschäftigen. Die Gründer müssen darauf fokussieren, das Geschäft voranzutreiben.
CW: Ist das Geld heute noch ein Hemmnis für eine Unternehmensgründung?
Frei: Für die eigentliche Gründung sind die Finanzen das kleinste Problem. Wer zwischen 100'000 und vielleicht 4 Millionen Franken benötigt, findet immer einen Geld­geber. Unternehmer und wohlhabende Einzelpersonen sind froh, wenn sie in Start-ups investieren können. Denn Frau und Herr Schweizer sind traditionell extrem interessiert an Innovation und Unternehmertum im Generellen.
Am anderen Ende ist es ebenfalls kein Problem, in der Schweiz einen Kredit in Höhe von 100 oder 200 Millionen Franken zu bekommen. Die Banken wie Credit Suisse, UBS und weitere sind gerne bereit, solche Summen zu finanzieren, wenn das Business-Modell stimmt. Zwischendrin gibt es in der Schweiz allerdings ein «Valley of death». Wer für sein Unternehmenswachstum zwischen 5 und 50 Millionen Franken benötigt, hat ein riesiges Problem. Für diese Summen gibt es so gut wie keinen Geldgeber. So sind die grossen Schweizer Start-ups wie GetYourGuide mittlerweile ins Ausland abgewandert.
Neu treten in der Szene einige Unternehmen auf, die diese Lücke schliessen wollen: Die Mobiliar, die Swisscom und die Banken haben Investment-Vehikel aufgebaut, die hohe einstellige und zweistellige Millionenbeträge bereitstellen. Diese Entwicklung steht aber noch am Anfang und die Konzerne lernen noch, welches ihre besonderen Auf­gaben sind in der Start-up-Förderung.
CW: Hat sich die Gründermentalität der Schweizer Studierenden und Angestellten mittlerweile auch ver­ändert? Sind Start-ups als Arbeitgeber gefragt?
Frei: Ich beobachte jedenfalls während meinen Vorträgen an unterschiedlichen Universitäten, dass die A-Player nicht mehr automatisch zu McKinsey, den Grossbanken oder den Investmenthäusern gehen. Sie bekunden ernsthaftes Interesse an Start-up-Themen oder steigen bei Jungunternehmen ein. Wenn dann aber Google mit dem Versprechen lockt, den Absolventen die Start-up-Mentalität plus noch viel Geld zu bieten, ist die Verlockung für die meisten verständlicherweise doch sehr gross.

Amoranas erste Computerausstattung

CW: Der Technologie kommt bei den Start-ups eine wichtige Rolle zu. Mit welcher Computerausstattung sind Sie gestartet? Und: Wie sieht Ihre Systemlandschaft heute aus?
Frei: Wir sind unter denkbar schlechten Voraussetzungen gestartet. Denn weder Lukas noch ich hatten einen technischen Background. Rückblickend kann ich sagen, dass wir deshalb grosse Schwierigkeiten hatten. Denn wir haben für geschätzt 12'000 Franken einen Online-Shop von einer Agentur programmieren lassen. Zuerst von einer Schweizer Agentur, später von einer Agentur im Ausland. Die Wege wurden lang und länger. Und die Koordination schwieriger.
Heute sind Lukas und ich uns einig, dass wir diesen Fehler nicht noch einmal machen würden. Wir hätten von Anbeginn an eine Person mit technischem Background ins Boot holen sollen, wie wir sie mit dem CTO Henrik Lowack heute haben. Er baut mittlerweile ein eigenes Team auf, das die Weiterentwicklung koordiniert.
Aktuell stehen wir gerade vor der Migration auf Magento 2. Das System haben wir bei einem Managed-Services-Anbieter gelagert, der auf E-Commerce spezialisiert ist. Mit ihm können wir im Jahresendgeschäft skalieren. Denn jede Stunde Downtime kostet jetzt richtig Geld.
CW: Analytik dürfte essenziell für das Online-Geschäft sein heute. Wie nutzt Amorana die Technologie?
Frei: Wir verwenden hauptsächlich Google Analytics für die Auswertung der Zugriffe auf die Webseiten.
Dabei ist Google Freund und Wettbewerber zugleich: Anfangs haben sie angeboten, uns die Klicks zu verkaufen. Anschliessend war das Modell, Klicks auf Basis einer Auktion zu kaufen. Zwischenzeitlich haben wir Klicks auf der Basis des potenziellen Umsatzes kaufen können. Neu werden uns Klicks aufgrund der möglichen Marge angeboten. Im nächsten Schritt können wir Klicks auf Basis der Customer Lifetime Value kaufen. Bedeutet aber auch: Wir mussten Google unsere Geschäftsdaten offenlegen, die sie dann für Google Shopping verwenden können. So gehen wir je länger, je mehr mit Google ins Bett.
CW: Schöne Aussage. Welche Fakten über Ihre Kunden können Sie bei Google Analytics ablesen?
Frei: Unser Hauptkundensegment sind Frauen in der Altersgruppe von 25 bis 34 Jahren. Sie kaufen mit ihrem Apple-Smartphone am Sonntagabend ab ca. 20:00 Uhr ein. Die zweitgrösste Kundengruppe sind Männer aus der gleichen Altersgruppe. Ihre bevorzugte Einkaufszeit ist der Montagabend um 21:00 Uhr. Ihr «Einkaufswagen» ist ty­pischerweise ein Android-Telefon.
Wie diese Beispiele zeigen, können wir am Traffic den Tagesablauf unserer Kunden ablesen: Morgens ist «tote Hose», denn während der Bürozeiten denkt niemand an Sex Toys. Den ersten Peak gibt es um 12:00 Uhr mittags. Er dauert etwa bis 13:30 Uhr. Zwischen 16:00 und 17:30 Uhr ist wieder totale Flaute. Ab ca. 18:00 Uhr beginnt der Ansturm, der stündlich grösser wird bis zu unserer Haupt-Einkaufszeit zwischen 21:00 und 22:00 Uhr. Anschliessend lässt das Interesse wieder nach.

Minimalist Alan Frei

CW: Kommen wir noch kurz zu Alan Frei als Person. Sie leben den Minimalismus. Was ist Ihre Motivation?
Frei: Während der Jahre, in denen ich ein Start-up nach dem anderen gegründet und auch wieder aufgegeben habe, habe ich natürlich eine ganze Menge Geld verbrannt. Ich musste Verpflichtungen eingehen, was mir gar nicht gefallen hat.
Denn ich erachte die Freiheit als eines der wichtigsten Dinge in meinem Leben.Und die Unabhängigkeit. Darum bin ich Unternehmer. Das ist die Einnahmen-Seite. Auf der Ausgaben-Seite habe ich bemerkt, dass mich viele Besitztümer in meiner Freiheit einschränken. Nehmen wir ein Auto: Im ersten Moment bedeutet ein Auto mehr Freiheit. Aber sobald man ein Auto besitzt, nimmt es einen auch ein: Der Kratzer muss ausgebessert und das Auto will gewaschen werden. In diese Zwänge will ich mich nicht begeben, deshalb miete ich ein Auto, wenn ich es benötige.
Ausgehend von der Überlegung zum Auto habe ich mir mein Eigentum angeschaut und geprüft, was ich wirklich selbst besitzen muss und möchte. Dabei sind noch 115 Gegenstände übrig geblieben. Heute weiss ich, dass ich in zwölf Minuten zügeln kann. Daran habe ich Freude!
Alain Frei, Gründer von Amorana, aufgenommen am Freitag, 1. November 2019 in Glattbrugg
Quelle: Samuel Trümpy
CW: Haben Sie vor dem minimalistischen Lebens­abschnitt viel mehr Dinge besessen?
Frei: Ja, viel mehr. Als ich vor ca. acht Jahren die Idee hatte, ich könnte minimalistisch leben, habe ich wie jeder andere Mensch auch ungefähr 10'000 Gegenstände besessen. Seitdem sortiere ich kontinuierlich aus.
CW: Bei welchem Gegenstand haben Sie sich am schwersten getan, ihn wegzugeben?
Frei: Eine schöne und wertvolle Armbanduhr meines verstorbenen Vaters. Nach seinem Tod haben wir Kinder das Erbe unter uns aufgeteilt. Ich habe eine seiner Uhren geerbt. Allerdings besass ich damals schon eine Armbanduhr. Natürlich brauchte ich nicht zwei Uhren, sodass ich meinen Bruder gefragt habe, ob er das Erbstück übernehmen möchte. Er war erfreut und trägt sie noch heute. Für mich war dieses Abgeben allerdings sehr schwierig.
CW: Hat der Minimalismus irgendwelche Konsequenzen für Ihren Arbeitsalltag?
Frei: Nein, keine. Die Anzahl der Dinge in meinem Besitz spielt für mich keine grosse Rolle. Ich nenne sie, wenn ich gefragt werde. Aber ich könnte genauso 1000 Gegenstände besitzen. Wenn ich für das Büro eine neue Tastatur benötige, dann kaufe ich sie einfach. Und besitze anschliessend 116 Dinge. Das belastet mich überhaupt nicht.
Zur Firma
Amorana
ist eine Marke des Start-ups Bluebox Shop. Das Unternehmen wurde im Februar 2014 von Alan Frei und Lukas Speiser gegründet. Der Shop unter Amorana.ch ging im April 2014 online und verfügt über ein breites Sortiment an Liebesspielzeugen. Heute beschäftigt die Firma am Standort Glattbrugg rund 30 Angestellte und setzt jährlich einen zweistelligen Millionenbetrag um.



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