03.05.2007, 11:05 Uhr

Misserfolge gezielt vermeiden

Requirements Engineering ist weder neu noch unerforscht. Trotzdem sind ungenügend spezifizierte Anforderungen noch immer die häufigste Ursache von Misserfolgen in IT-Projekten. Doch worin liegen eigentlich die Schwierigkeiten bei diesem Thema? Rainer Grau, Leiter der Ausbildungsabteilung bei Zühlke, schildert im Interview seine Sicht der Dinge.
Für Rainer Grau ist das Requirements-Engineering die «Königsdisziplin».
Erfolgreich abgeschlossene Softwareentwicklungsprojekte sind eine echte Seltenheit. Zwar wurden in den vergangenen Jahren kontinuierliche Fortschritte erzielt - doch bei weitem nicht genug. Das belegt eindrücklich der alle zwei Jahre erscheinende «Chaos Report» der Standish Group (siehe auch Seite 11). Dessen aktuellste Ausgabe weist aus, dass nur 35 Prozent der vergangenes Jahr gestarteten Softwareentwicklungsprojekte erfolgreich abgeschlossen wurden. 46 Prozent der Vorhaben hielten die Vorgaben nicht ein, 19 Prozent scheiterten gar komplett.
Die Gründe für den Misserfolg sind stets dieselben: Unklar und unvollständig definierte Anforderungen, unzureichende Basisinformationen, falsche Vorgehensweisen und die Tendenz zu überrissen optimistischer Planung und der Ummünzung von Schätzungen in Motivationsanreize.
Rainer Grau, Chef des Ausbildungszentrums von Zühlke in Schlieren, nennt als häufigste Ursache für den Misserfolg die Vernachlässigung des Requirements Engineering.
Im Gespräch zeichnet er die Mutation des Anforderungs-Managements zur «Königsdiziplin» nach. Er erklärt überdies, weshalb das Thema nicht längst auf der Agenda von IT-Managern steht und zeigt auf, wo die Prob-leme in der Praxis liegen.
Computerworld: Mangelndes Requirements Engineering ist der häufigste Grund für Projektfehlschläge. Wird die Bedeutung dieser Disziplin unterschätzt?
Grau: Ja. Denn im Vergleich beispielsweise mit dem Projektmanagement oder dem Test-Engineering investieren die Firmen sehr wenig in den Aufbau eines strukturierten Anforderungs-Managements.

Weshalb ist das so?

Schauen Sie sich die aktuelle Situation einmal im Rückblick an: Requirements Engineering ist erst seit Kurzem zum Fokus-thema geworden. Früher hat die Entwicklung der Software Probleme bereitet, dann ist deren Testing in den Vordergrund gerückt und zuletzt stand Offshoring im Zentrum.
Die Unternehmen arbeiten sich im Produkteentwicklungszyklus gewissermassen vom Ende zum Anfang durch. So erreichen sie zwar eine immer höhere Reife, kommen aber auch zu immer komplexeren Tätigkeiten. Das erklärt den Bedeutungswandel der jeweiligen Disziplinen im Entwicklungszyklus und hat die aktuelle Aufwertung des Requirements Engineering zur Folge gehabt.

Welches sind denn die grössten Schwierigkeiten in der Praxis?

Das Managen der Anforderungen ist zwischen Business und IT angesiedelt. Die Experten beider Bereiche sprechen aber leider nicht die gleiche Sprache, haben ihr jeweils eigenes Blickfeld und bringen unterschiedliche Vorbildungen mit.
Weil typischerweise ein Requirements Engineer bei der einen Gruppe die Anforderungen aufnehmen und sie dann der anderen Gruppe erklären muss, sollte er beide Bereiche bestens kennen.
Die interdisziplinäre Kommunikation ist dabei zwar eine seiner grössten Schwierigkeiten, stellt für ihn aber gleichzeitig auch den wichtigsten Erfolgsfaktor dar.

Gibt es eine Faustregel, welcher Anteil des Projektbudgets ins Requirements Engineering investiert werden sollte?

Eine Faustregel besagt, dass 15 Prozent der Projektkosten dafür eingesetzt werden sollten. In einem Umfeld, in dem schon bestehende Lösungen adaptiert werden, darf das Budget zwar durchaus geringer sein. Wenn allerdings ein neues System mit einem hohen Innovationsgrad entwickelt wird, reichen die 15 Prozent in aller Regel nicht mehr aus.

Welche Fähigkeiten erwarten Sie persönlich von den Requirements Engineers?

Sie sollten kommunikationsfähig sein und natürlich die gängigen Methoden beherrschen. Zudem müssen sie die Prozesse in ihrem Unternehmen genau kennen und über «social skills» verfügen.
Ausserdem brauchen sie ein Domänen- respektive Branchenwissen und selbstverständlich IT-Know-how. Ein guter Anforderungstechniker kommt heute realistischerweise entweder aus dem Businesssektor oder aus der IT. In seiner neuen Funktion muss er dann in den jeweils anderen Bereich hineinwachsen. Das ist allerdings oft schwierig. Denn noch sind in den Unternehmen die Abteilungen ja meist getrennt organisiert. Überdies besteht zwischen IT und Business nicht selten ein tiefer Graben.
Ich plädiere deshalb dafür, dass damit begonnen wird, schon in der Ausbildung in gemischten Teams zu arbeiten.

Und welche Stellung sollte der Requirements Engineer dann in einem Unternehmen einnehmen?

Für mich ist das Requirements Engineering die Königsdisziplin. Nach dem Projektmanagement, der Entwicklung und dem Test-Engineering erarbeitet sich ein Unternehmen mit dem Requirements-Engineering das letzte Glied in der Kette.
Erst mit dem Rückgriff auf das Anforderungs-Management sind alle wichtigen Disziplinen vom Businesszentrum bis hinein ins Rechenzentrum richtig abgedeckt.
Zur Person

Rai

ner Grau

Der Leiter der Ausbildungsabteilung bei Zühlke verfügt über 18 Jahre Erfahrung in der Softwareentwicklung, als Systemarchitekt und als Testing- und Requirements-Engineer. Er hat den Ausbildungsgang zum zertifizierten Requirements Engineer mit ausgearbeitet.
Begriffsdefinition
Requirements Engineering
Der englische Begriff steht für die bei Spezialisten unbeliebte Bezeichnung «Anforderungs-Management». Dahinter verbirgt sich das systematische, disziplinierte und quantitativ erfassbare Vorgehen beim Spezifizieren aller Anforderungen an eine Software.
Erfahrungsaustausch

Abstrahieren macht Mühe, Lösungsdenken ist einfacher

Karol Frühauf ist Vorsitzender des Requirements Engineering Boards der Qualifizierungsstelle SAQ. Als Unternehmer - seine Firma Infogem fokussiert sich auf Schulung und Beratung - kennt er die Probleme vor Ort.

Computerworld: Wie würden sie Ihre Erfahrungen als Projektmanager in Firmen resümieren?

Karol Frühauf: In vielen Unternehmen ist der Umgang mit Anforderungen ein Problem. Das Thema ist anspruchsvoll und muss bewusst angegangen werden. Requirements sind nicht einfach da. Man muss sie sich erarbeiten. Dabei gibt es keine schnellen Resultate. Die Tätigkeit des Anforderungs-Managements wird darum sogar manchmal für völlig unnötig gehalten.

Gibt es diesbezüglich Unterschiede in den diversen Branchen?

Von der Geschichte her ist Requirements Engineering in der Industrie stärker verbreitet als bei den Dienstleistern. In der Industrie ist die Marge schnell verspielt, da kann man sich nicht viele Fehler leisten.

Wo orten Sie die grössten Probleme?

Die meisten resultieren aus Kommunikationsproblemen. Auch das Denken auf verschiedenen Abstraktionsebenen bereitet Mühe. In Lösungen zu denken ist einfacher.

Weshalb wird das Requirements -Engineering jetzt erst zum Thema?

Ein Grund ist wohl das stärkere Kostenbewusstsein. Um Misserfolge zu vermeiden, ist die klare Definition von Anforderungen entscheidend. Und zertifizierte Softwaretester fordern heute klare Requirements, ohne die sich nicht wirksam testen lässt. Zudem ist die Ausbildung zum Requirement Engineer profes-sionalisiert worden.
Volker Richert



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