Kolumne 26.06.2020, 13:15 Uhr

Die radikale Seite der Digitalisierung

Die Corona-Krise ist ein Booster für die Digitalisierung. Pläne wurden plötzlich umgesetzt. Und jetzt? Ist die Digitalisierung nun durch? Nein, vielmehr stehen wir erst an ihrem Anfang.
(Quelle: Shahadat Rahman / Unsplash)
Die aktuelle Coronavirus-Krise war für viele Unternehmen, NGOs und staatliche Institutionen ein digitaler Fitnesstest. Wer über das Wochenende seine Geschäftstätigkeit umstellen konnte, der hat ihn bestanden. Wobei der Erfolg oft von anderen abhing – den Kunden, Partnern, Lieferanten. Für uns als Fachhochschule war beispielsweise die Bereitschaft der Studierenden zum Mitmachen wichtig, um Kontinuität zu wahren.
Die Krise ist aber auch ein Transformationsbeschleuniger. In manchen Bereichen konnte man beobachten, wie innert Wochenfrist jahrelange Widerstände gegen Ver­änderungen in sich zusammenbrachen. Die physische Behinderung des Alltags führte zu einer nie zuvor beobachteten Agilität. Was vor der Krise gestern unvorstellbar war, will man nach einigen Wochen gar nicht mehr hergeben. Umso frustrierender war es mitzuerleben, wie einige vermeintliche Vordenker der Digitalisierung alles versuchten, um den Fortschritt zu diskreditieren. 
Schwerwiegender als Störgeräusche sind die Miss­verständnisse in Bezug auf die digitale Transformation, die sich zu verfestigen scheinen. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass die digitale Transformation ein Endziel hat, das man irgendwann erreichen wird. Keinesfalls wäre dieses Endziel heute erkennbar, weil wir keine Ahnung haben, welche Technologien noch erfunden werden. Es ist ein Irrtum, dass die digitale Transformation die Welt stetig besser macht. Sie bringt auch Rückschritte. Und es ist ein Irrtum, dass man Fortschritt dadurch erzielt, ein Pro­blem nach dem anderen durch eine App zu lösen. Jede Lösung hat Nebenwirkungen. 
“Ein Konzern muss das Scheitern lernen, wenn er überleben will„
Reinhard Riedl
Der Gurtenzwang führte anno dazumal beispielsweise zu riskanterem Fahren, wie das die Ökonomen vorhersagten. Ob eine nur manchmal funktionierende ­Corona-App anders wirkt, ist eine spannende Frage. Was aber wirklich Grund zur Sorge gibt, das ist der überzeugte Unglaube an disruptive Veränderungen. Digitalisierung wird von vielen als Wasser auf ihre Mühlen verstanden. Für sie korrespondieren damit sogar Praktiken, die von der Wissenschaft verworfen wurden. Die Flut von Fake News im Web und in sozialen Netzwerken macht auch vor ihrer Erfinderin, der Digitalisierung, nicht halt. 
Allen gegenteiligen Thesen zum Trotz: Die digitale Transformation ermöglicht disruptive Geschäftsmodelle, welche die Marktlogik verändern, gänzlich neue Märkte schaffen und zu Formen der Unternehmensführung übergehen, die allen bisherigen Erfahrungen widersprechen. Man kann digital nicht nur effizienter und auf andere Art Business machen, sondern auch extremer. Und man muss es vielleicht sogar schizophrener tun. 
Das aber gelingt nur, wenn die digitale Transformation von Verstehen-Wollen, Neugier, Mut, kühnen Assoziationen und intelligenter Kopierlust getrieben wird. Frei adaptiert aus der Bibel: Eher geht ein Kamel durch das Nadelöhr als ein Grosskonzern in die digital transformierte Zukunft. Ein Konzern kann noch so viele Start-up-Koopera­tionen verfolgen, wie er will: Er muss das Scheitern lernen, wenn er überleben möchte. 
Darum zum Abschluss ein nächster kleiner Fitnesstest: Wie viele digitale Transformationsprojekte sind bei Ihnen schon gescheitert? Weniger als vier? Egal, ob Sie nur bis drei zählen können oder einfach nur vorsichtig unterwegs sind: Sie sind durchgefallen! Aber ich möchte mit einem positiven Ausblick schliessen: Echte digitale Fitnesstests adressieren viel mehr Aspekte und sie zeigen zweierlei auf: Low Hanging Fruits und ausbaubare Assets!
Zum Autor
Reinhard Riedl
ist Präsident der Schweizer Informatik Gesellschaft. Riedl beschäftigt sich mit digitalen Ökosystemen und leitet das transdisziplinäre Forschungszentrum «Digital Society» an der Berner Fachhochschule.



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