Reportage 22.10.2018, 18:12 Uhr

Der lange Weg der Innovation

Im März hat ein Team des Beratungshauses Q-Perior mit der Ent­wicklung eines digitalen Versicherungsassistenten den InnoJam Hackathon von SAP gewonnen. Als Belohnung durfte die Crew nach Berlin reisen, ihre Lösung dort einer Expertengruppe vorstellen und sie in einem Design-Thinking-Workshop weiterentwickeln.
Oben: Alrik Künne, Thomas Ta, Jan Wilhelm Ruh, Christoph Hahn, Sandro Scalco, Michel Magne und Astrid Wunsch; unten: Christian Messerli und Christian Hänchen
(Quelle: NMGZ)
Es ist Mittwochmorgen Anfang Juli, kurz vor neun Uhr. Am Berliner Flughafen Tegel herrscht grosses Gewusel. Die Leute suchen im unübersichtlichen Hexagon den Weg zu Bussen und Taxis oder drängeln gehetzt in Richtung Abfluggate. Unter einer gelb-schwarzen Anzeigetafel stehen sieben Männer beisammen. Bei sich haben sie nur leichtes Handgepäck. Es sind Sandro Scalco, Michel Magne, Jan Wilhelm Ruh, Thomas Ta und Alrik Künne von Q-Perior. Sie alle sind Teil des «Technology & Inno­vations»-Bereichs des international tätigen Beratungs­unternehmens. Begleitet werden sie von Christoph Hahn, der diesen Bereich leitet, und einem Vertreter von SAP, Christian Messerli.
In Berlin treffen sich die Herren von Q-Perior auf Ein­ladung von Messerlis Arbeitgeber. Dazu kam es, weil sie im März den von SAP veranstalteten InnoJam Hackathon gewannen (Computerworld berichtete). Dieser findet jeweils während des SAP Live Campus in Basel statt. Bis zu zehn Teams programmieren am Hackathon um die Wette und messen sich mit ihren Entwicklungen. Siegreich war das Team von Q-Perior mit einem digitalen Versicherungsassistenten, der Meldungen zu Hagelschäden automatisch verarbeitet. Hierzu aber später mehr. Am Flughafen ist die Stimmung heiter, man bringt sich gegenseitig auf den neusten Stand und unterhält sich über Aktuelles aus dem Beruf. Man hat sich schliesslich teilweise auch schon eine Weile nicht mehr gesehen. Denn während Scalco, Magne, Ruh und Hahn in der Schweiz für die Beratungsfirma arbeiten, sind Ta und Künne in Deutschland beschäftigt.

Zwischenstopp im Data Space

Viel Zeit bleibt am Flughafen aber nicht. Nur kurze Zeit später bricht das Team ins Zentrum der Hauptstadt auf. Erster Stopp: Hotel. Der Vormittag verläuft insgesamt noch einigermassen ruhig, schon am Nachmittag gilt es aber ernst. Denn dann pitcht die Gruppe ihre Entwicklung im insurHUB, einem Innovationslabor verschiedener deutscher Versicherungsunternehmen. Davor legt die Gruppe noch einen Zwischenstopp im Data Space ein. Das SAP-Gebäude beherbergt einen Veranstaltungsraum, einen digitalen Kreativraum sowie den IoT Startup Accelerator des Software-Konzerns. Untergebracht ist im Data Space auch die Data Kitchen, wo sich die Crew zum Lunch für den Pitch stärkt. Das futuristische Restaurant in der SAP-Niederlassung an der Rosenthaler Stras-se eröffnete ein Berliner Gastronom in Kooperation mit dem Software-Haus. Bestellt wird dort online oder über eine App – keine einfache Angelegenheit, wie sich herausstellen sollte. Den IT-Cracks gelang es schliesslich doch noch, ihr Mittagessen zu ordern. Per Mail wurden sie benachrichtigt, sobald die Mahlzeiten in einer der vielen beleuchteten Boxen im Innern des Restaurants zur Abholung bereitstanden.
Ein spannender Kontrast zur fortschrittlichen Mensa ist das Gebäude gleich nebenan, an der Rosenthaler Strasse 39. Es sticht im durchgestylten Berlin Mitte aus den renovierten Häusern mit den schnieken Schaufensterfronten he­raus. Das sogenannte Haus Schwarzenberg wurde seit Jahrzehnten nicht saniert und zeugt mit seiner versprayten und bröckelnden Fassade noch vom «alten» Berlin. Das denkmalgeschützte Haus beherbergt heute unter anderem das Anne-Frank-Zentrum, ein Café, ein Kino, Ateliers und Büros.

Ab ins Haifischbecken

Der Techspace befindet sich in einem schick ausgebauten Kreuzberger Industriegebäude
Quelle: NMGZ
Dem Q-Perior-Team bleibt jedoch nicht viel Zeit für Sightseeing. Nach dem Mittagessen können sie zwar noch die warmen Sommersonnenstrahlen geniessen, danach gehts aber schon bald wieder weiter. Denn im insurHUB werden sie bereits von den Versicherungsexperten erwartet. Dieser ist nur ein paar U-Bahn-Stationen vom Data Space entfernt. Auf der Fahrt ist die Stimmung in der Gruppe nach wie vor locker, von Aufregung keine Spur. Am Moritzplatz steigt die Gruppe aus. Von dort aus ist der insurHUB nur noch einen Steinwurf entfernt. Er befindet sich im Techspace Kreuzberg – einem Bürogebäude und Coworking Space, in dem Firmen oder Start-ups einzelne Schreibtische oder auch ganze Offices mieten können. Der alte Industriebau wurde innen schick ausgebaut und topmodern ausgerüstet. Die Crew wird in Empfang genommen und bestaunt beim Eintreten die Räumlichkeiten des Techspace.
Der insurHUB versteht sich als Innovationskatalysator für die Versicherungsbranche, in dem neue Ideen und Lösungsansätze generiert und in Prototypen überführt werden sollen. Beteiligt sind dort aktuell die deutschen Ver­sicherer Ecclesia, HDI, LVM, Provinzial NordWest und die Stuttgarter. Jede Unternehmung stellt für drei Tage in der Woche Mitarbeiter ab, um modernen Methoden und innovativen Ideen nachzugehen. Die verbleibende Zeit nutzen sie, um diese Erkenntnisse in ihre jeweiligen Firmen zu bringen. Unterstützung erhalten sie dabei von den Partnern EY Innovalue, SAP und V. E. R. S. Leipzig.

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Ein Team des Beratungshauses Q-Perior gewann im März den InnoJam-Hackathon von SAP. Als Belohnung durfte die Crew nach Berlin fahren, ihre Lösung dort einer Expertengruppe vorstellen und sie in einem Design-Thinking-Workshop weiterentwickeln. Computerworld hat das Team auf der Reise begleitet.

Bühne frei

Nach der Ankunft steht schon bald der Pitch an. In diesen steigt Christoph Hahn mit einem Video aus Filmmaterial ein, das am Hackathon aufgenommen wurde. Da das Beratungshaus viele Unternehmen aus der Versicherungsbranche zu seinen Kunden zählt, lag es nahe, eine innovative Lösung für die Versicherer zu realisieren, wie der Leiter des «Technology & Innovations»-Bereichs von Q-Perior erklärt. Im Vorfeld hatte man sich intern bei Q-Perior mit Ansätzen des Design Thinkings der Idee des digitalen Assistenten genähert, da Versicherer es bei schweren und unvorhersehbaren Gewittern in kurzer Zeit mit einer grossen Masse an Meldungen zu tun bekommen. «So haben wir uns für diesen Case entschieden und uns das Ziel gesetzt, innerhalb von 40 Stunden eine digitale und vollautomatisierte Lösung zu bauen», erklärt Hahn vor der Expertengruppe.
Christoph Hahn stellt die entwickelte Lösung im Techspace vor
Quelle: NMGZ
Als Medium der Kommunikation kommt ein Chatbot zum Einsatz, mit dem Kunden der Versicherung einen Hagelschaden melden können. Das Rückgrat der Lösung bildet eine Machine-Learning-Komponente, die das Bild eines Schadens am Fahrzeug automatisch klassifiziert. Gemäss Hahn kann dadurch etwa zugeordnet werden, um welchen Schaden es sich handelt und wie schwerwiegend dieser ist. Wäre auch das Nummernschild erkennbar, könnte sogleich die dazugehörige Police ermittelt werden. Mit in die Lösung baute das Team schliesslich noch eine Blockchain-Komponente ein, um den Schaden anhand von Attri­buten zusätzlich abzulegen. Diese könne später an verschiedene Versicherungen angegliedert werden. Das ermögliche es zu prüfen, ob ein Schadensfall beispielsweise nach einem Halterwechsel bereits zuvor über eine andere Versicherung abgehandelt wurde, erklärt Hahn. «Insgesamt ist es uns wichtig, mit der Lösung zu zeigen, dass auch ganz moderne Technologien in kürzester Zeit lauffähig sein können. Zudem wollen wir keine freien, radikalen Lösungen entwickeln, sondern die bestehenden Geschäfts­prozesse im Unternehmen optimieren und ergänzen.»

Ja, aber ...

Für den digitalen Assistenten erntet das Team nach dem Pitch positive Rückmeldungen. «Wenn es in einer Region ein Unwetter gibt, bauen wir sogenannte Hagelzentren auf. Das kommt bei uns regelmässig vor», erklärt ein Experte. «Dann schicken wir dort ein Paar Gutachter hin, die sich die beschädigten Autos live vor Ort anschauen. Dabei bilden sich immer lange Schlangen und die Kunden müssen warten, bis sie endlich an der Reihe sind.» Eine digitale Abwicklung könne deshalb eine echte Erleichterung darstellen, meint er.
Gleichzeitig sahen die Versicherungsexperten bei der Lösung noch Verbesserungspotenzial – etwa bei der Bild­erkennung. So wäre es ideal, wenn diese so gut funktionieren würde, dass aufgrund der Analyse direkt berechnet werden könnte, wie viel Geld ein Kunde zugute habe, merkte jemand an. Hierbei stösst die Lösung jedoch an ihre Grenzen. Während des InnoJams konnte das Team den Assistenten mit Modellen von SAP so weit trainieren, dass er Autos und Hagelschäden automatisch erkennen kann. So weit, wie sich das die Fachleute aus den Versicherungen wünschen, reichen die Fähigkeiten des digitalen Assistenten allerdings noch nicht. «Das ist aber alles eine Frage der verfügbaren Daten und des Trainings», sagt Hahn. Die Frage sei dann, ob das jede Versicherung mit den eigenen Datensätzen selbst machen wolle oder ob man sich mit anderen Unternehmen zusammenschliesse und die Algorithmen gemeinsam mit Bildern und Informationen versorge.

Viel Aufwand und Sorgen um Arbeitsplätze

Ein weiterer Experte merkt an, dass einzelne Versicherer die Lösung wohl befürworten, aber vermutlich für sich allein beanspruchen möchten. Je nach Grösse des Unternehmens könne dabei jedoch wiederum der Aufwand zu gross sein, die nötige Datengrundlage im Alleingang bereitzustellen. «Interesse an einer solchen Lösung könnte vielleicht der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft haben. Und dort kommen die einzelnen Versicherer sowieso alle zusammen. Ich würde euch deshalb dringend empfehlen, mit denen ins Gespräch zu kommen», lautet sein Ratschlag. Ausserdem macht er den Einwand, dass von der Branche – beispielsweise von der Zunft der Gutachter – Gegenwind zu einer solchen Lösung kommen könne. Denn in diesem Berufsfeld habe ein digitaler Assistent das Potenzial, Arbeitsplätze überflüssig zu machen.
Das Q-Perior-Team posiert im Techspace mit Vertretern von SAP und dem insurHUB
Quelle: NMGZ
Mit zahlreichen Inputs und Empfehlungen der Ver­sicherungsexperten geht das Entwickler-Team nach der aufschlussreichen Diskussionsrunde schliesslich in den wohlverdienten Feierabend, den sie auf der Aussichtsplattform des Fernsehturms einläuten. Dort geniessen sie die Aussicht über die Stadt Berlin und lassen den ersten Tag bei einem gemeinsamen Apéro Revue passieren.

Was die Kunden wollen

Am Donnerstag geht es schon früh wieder los. Im Berliner AppHaus von SAP – es gibt vier weitere davon in Heidelberg, Palo Alto, New York und in der Nähe von Seoul – wartet schon der Design-Thinking-Experte Christian Hänchen auf das Team. Im Dachstock des Gebäudes, der zum Arbeitsraum umfunktioniert wurde, feilen die InnoJam-Gewinner am zweiten Tag ihrer Reise im Rahmen eines Design-Thinking-Workshops weiter an ihrer Versicherungslösung. Der Arbeitsraum ist dafür mit allerlei Arbeitsmaterialien und Whiteboards ausgestattet. Mit einer kleinen DJ-Anlage ist auch für Unterhaltung gesorgt. Diese zieht sogleich die Aufmerksamkeit einiger Crewmitglieder auf sich – es dauert nicht lange, bis die ersten Scheiben auf dem Plattenteller drehen.
Astrid Wunsch und Christian Hänchen von SAP liefern Denkanstösse
Quelle: NMGZ
Nun ist aber Arbeiten angesagt. Hänchen liefert erst eine kurze Einführung zum AppHaus und zum Thema «Design Thinking». Kurz darauf holt er Astrid Wunsch hinzu. Sie ist bei SAP als Design Strategist angestellt. Gemeinsam mit Hänchen will sie die Gruppe bei der Weiterentwicklung des digitalen Assistenten unterstützen. Diesmal sind es Alrik Künne und Michel Magne, die den beiden die am Hackathon entstandene Lösung präsentieren. Die SAP-Leute zeigen sich angetan vom digitalen Assistenten. Interessiert erkundigen sie sich sogleich nach den Reaktionen der Versicherungsexperten. Hahn erklärt, dass diese Vorbehalte hatten und primär aus Sicht der Unternehmen argumentierten, statt sich an den Kundenbedürfnissen zu orientieren. Um den Versicherern die Vorteile für die Kunden näherzubringen, rät Wunsch dem Team deshalb, sich vertieft mit deren Schmerzpunkten auseinanderzusetzen. «Es geht darum, Empathie bei den Unternehmen für die Probleme der Versicherungsnehmer zu wecken», erklärt sie. Und am besten gelinge dies, indem man Aussagen von Versicherungsnehmern hierzu aufnehme und den Prototyp von ihnen verifizieren lasse.
Sandro Scalco ist konzentriert bei der Arbeit
Quelle: NMGZ
Nachdem das Q-Perior-Team diesen und weitere Inputs von Wunsch und Hänchen aufgenommen hat, macht es sich in kleineren Gruppen direkt an die Arbeit. Innert kürzester Zeit werden auf Whiteboards Schemata auf­gezeichnet und Gesichtspunkte zu verschiedensten Anspruchsgruppen notiert, die von der Lösung tangiert werden können. Wunsch und Hänchen sind begeistert vom Engagement der Gruppe und raten ihnen, auch nach dem Workshop und dem Aufenthalt in Berlin, Zeit in die Ausarbeitung der Lösung zu stecken. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Denn für Scalco, Magne, Ruh, Ta und Künne war die Teilnahme am Hackathon und die Entwicklung des digitalen Versicherungsassistenten nur ein Nebenprojekt zu ihrem normalen Tagesgeschäft. Bevor sie sich zum Mittag­essen eine Currywurst gönnen, schicken sie deshalb bereits voraus, dass es nicht allzu einfach sein werde, dies zu bewerkstelligen – zumal ja nicht einmal alle am selben Standort von Q-Perior arbeiten. Nach arbeitsamen Stunden im AppHaus von SAP neigt sich die Reise für die Gruppe bereits dem Ende zu. Am späten Nachmittag macht sich das Entwicklerteam mit Hahn und Messerli schliesslich wieder auf den Weg in Richtung Flughafen Tegel.

Auf Eis gelegt

Unterdessen ist die Reise des Q-Perior-Teams nach Berlin schon eine Weile her. Gross weiterentwickelt wurde die Lösung gemäss Christoph Hahn in der Zwischenzeit jedoch nicht. Q-Perior war aber bei verschiedenen Versicherungen vor Ort und hat bei ihnen nachgefragt, wie sie überhaupt zu einer solchen Lösung stehen. «Das Ganze wird von der Branche grundsätzlich mit ziemlichem Respekt angesehen. Vielleicht sind doch zu viele neue Technologien involviert», erklärt der Bereichsleiter. Er sei dennoch der Meinung, dass schon jetzt einige Unternehmen bereit wären, einen digitalen Versicherungsassistenten einzukaufen, würde es sich um ein fertiges Produkt handeln. Selber sei aber niemand dazu bereit, Zeit in die Weiterentwicklung des Prototyps und das Training des Services zu investieren. «Unser Ziel ist es, dass wir beispielsweise ein Konsortium oder einen Dachverband finden, der das Projekt fördern möchte.» Weil das Produkt aber auch an andere Branchen angepasst werden könne, biete es dem Beratungs­unternehmen zudem die Möglichkeit, Firmen aus anderen Bereichen anzugehen – etwa aus dem Einzelhandel. «So ist es nun meine Aufgabe, Beispiele aufzuzeigen, wie Chatbots und künstliche Intelligenz auch für andere Branchen adaptiert werden können.»
Eine Innovation ganzheitlich umsetzen zu können, ist gemäss Hahn generell ein schwieriges Thema. Dass das Beratungsunternehmen solche Projekte angeht, habe verschiedene Beweggründe. Einerseits biete es der Firma die Möglichkeit, sich beispielsweise an Events von Partnern wie SAP zu positionieren. «Zudem können wir damit unsere Mitarbeiter mit neuen Themen ausbilden. Das hilft uns auch beim Recruiting.» Gerade im Consulting sei der Markt dünn, sagt Hahn. Umso schwieriger sei es, gute Berater zu finden. «Da hilft es, wenn wir mit spannenden und innovativen Themen unterwegs sind.»


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