Geschichte: Glasnost in der IT-Industrie

Interview mit Eugene Velikhov

«Wir sind mehrere Generationen im Rückstand»

Eugene Velikhov, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften und Physiker, galt als intimer Kenner der sowjetischen Computer­industrie. «PC World USSR», eine Schwesterzeitung von Computerworld Schweiz, traf den Experten im November 1989 zum Interview.
PC World USSR: Westliche Experten meinen, dass wir im Bereich der Elektronik – wegen der Monopolstellung der Staatsbetriebe und der Bevorzugung des Militärs – einen Rückstand von fünf bis zehn Jahren haben. Was ist Ihre Meinung zur Situation in der sowjetischen Informatik-Industrie? 
Eugene Velikhov: Wir sind aus verschiedenen Gründen im Rückstand. Im Westen wurden Computer nicht nur von Grossfirmen wie IBM entwickelt, sondern auch von der Basis, von risikofreudigen Kleinunternehmen, die eigene Ideen einbrachten und für technologische Durchbrüche sorgten. Ehe wir auf IBM-Klone umstellten, hatten wir selber einen ziemlich leistungsfähigen Computer, den BESM-6. Er war nicht schlecht, seine Weiterentwicklung hätte aber einen gewissen Standard in der Fertigung von Mikroelektronik-Komponenten vorausgesetzt, der jedoch noch nicht erreicht war. Man sollte lieber Lizenzen kaufen, als sich mit der Forschung und Entwicklung zu beschäftigen. Andernfalls verliert man drei bis fünf Jahre. Der Habgierige zahlt eben zweimal. [Hier unterschätzte Velikhov die Leistung seiner Landsleute: Der BESM-6 kalkulierte während des 1975er-Apollo-Sojuz-Raumfahrt­projekts alle Telemetriedaten innerhalb nur einer Minute. Die NASA-Computer zu der Zeit benötigten dafür 30 Minuten.] 
Die Informatik-Abteilung der Akademie der Wissenschaften musste 1983 von Grund auf neu errichtet werden, nachdem die Akademie den Bereich Computer und Informatik zuvor ausgeklammert hatte. Dies war ein grosser Fehler. Die wissenschaftlichen Aspekte der Informatik wurden dadurch vernachlässigt. Es gab damals zwar Staatsunternehmen, die Computer produzierten, es mangelte aber an den wissenschaftlichen Grundlagen. 
PCW: Wie würden Sie den Personalcomputer-Markt in der Sowjetunion heute beschreiben? 
Velikhov: Unsere eigene Computerproduktion ist wie ein Eisberg: Die Spitze davon ist die Montage, der Rest sind Hardware, Komponenten und Material. Wir bauen den Eisberg von der Spitze her zusammen. Wegen der anfälligen elektronischen Komponenten produzieren wir überholte Personalcomputer und veraltete Peripheriegeräte. Ande­rerseits sind wir fähig, High-Tech-Einzelstücke und -Kleinserien zu bauen. So stellte die Akademie der Wissenschaften Personalcomputer an der Hannover-Messe aus, die stark beachtet wurden. Einige Tausend Stück davon wurden produziert. Heute produzieren wir Hardware und spezifische Anwendungen für VLSI. 
PCW: Viele westliche Wissenschaftler und Experten sind an unserer Software interessiert. Wie können Sie das erklären? 
Velikhov: Wenn wir Komponenten benutzen, die zwei Generationen im Rückstand sind, um Computer zu entwickeln, die beinahe drei Generationen zurück sind, dann sollte unsere Software eigentlich auch drei Generationen zurück sein – dank unseren enormen Anstrengungen ist dem aber nicht so. Wir haben ja zuverlässige Computer auf dem oberen Niveau und produzieren sie in Kleinserien und in einigen Software-Bereichen haben wir durchaus Chancen auf dem Weltmarkt.
PCW: Und wie steht es mit den Grossrechnern? 
Velikhov: Wir sind hier gegenüber dem Westen ernsthaft im Rückstand. Aber noch in diesem Jahr werden wir Rechner herstellen, die beinahe eine Milliarde Operationen pro Sekunde ausführen. Ich spreche vom «Elbus», der die Pipeline-Verarbeitung verwenden wird. 
PCW: Was wünschen Sie sich vom Westen, was bewirkte das High-Tech-Embargo des Westens? 
Velikhov: Das Embargo hat unsere eigenen Entwicklungen sowohl beschleunigt als auch behindert. Der Westen sollte an Kooperation mit uns interessiert sein. Wir würden gerne gemeinsam die Submikron-Technologie auf Hardware-Basis entwickeln und hätten gerne einen freien Tauschhandel mit Chips. Wir könnten Software, Algorithmen und mathematische Modelle liefern. Was wir brauchen, ist eine Öffnung des Westens und den Abbau der Handelsbeschränkungen.



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