Computerworld vor 30 Jahren
25.12.2019, 06:35 Uhr

Geschichte: Glasnost in der IT-Industrie

Nur langsam öffnete sich 1989 in der IT-Industrie der Eiserne Vorhang. ­Computerworld Schweiz konnte hautnah dabei sein, als PCs nach «drüben» ­wollten und Michael Gorbatschows Wahlcomputer versagte.
Die Illustration zum Computerworld-­Artikel über den Computer-Export nach «drüben» aus dem November 1989
(Quelle: Computerworld / Claudio Gnani)
Glasnost und Perestroika hätten 1989 gut die «Wörter des Jahres» werden können. Die russischen Begriffe für «Offenheit» und «Umstrukturierung» waren aber beide schon seit Mitte der 1980er in den Schlagzeilen. So wurde «Reisefreiheit» zum «Wort des Jahres», damals noch für den deutschsprachigen Raum. Glasnost und Perestroika begannen aber 1989 erste Auswirkungen auf die internationale Computerindustrie zu haben. Bereits seit zwei Jahren war es russischen Genossenschaften und Staatsbetrieben erlaubt, Joint Ventures mit westlichen Unternehmen einzugehen. Die ausländischen Firmen mussten sich allerdings mit einem Anteil von höchstens 49 Prozent begnügen. 
Der damalige Office-Entwickler Software Products International (SPI) nutzte als eines der ersten US-amerikanischen Unternehmen die Chance. In Kooperation mit der sowjetischen Akademie der Wissenschaften wurde die Office-Suite «Open Access» ins Russische übersetzt und in der UdSSR vertrieben. Mit überschau­barem Erfolg. Nicht einmal drei Jahre später sollte SPI die letzte Version von Open Access veröffentlichen und anschlies­send bald selbst die Geschäftstätigkeit einstellen. 
Einige westeuropäische Hardware-Hersteller begannen bereits im Frühling des Wendejahres, nach Osten zu drängen. Computerworld berichtete etwa von einem Abschluss von Siemens, denen für die Lieferung von 300'000 Personalcomputern an die Sowjetunion eine Summe von rund 1,5 Milliarden D-Mark in Aussicht gestellt wurde. Auch die französische Groupe Bull sowie die Comrac Systemen und Tulip Computers aus Holland seien in Verhandlungen über ähnliche Abkommen. Olivetti plante der Zeitung zufolge eine Holdinggesellschaft in Ungarn mit einem Gründungskapital von 50 Millionen US-Dollar. 

Acht Stunden Warteschleife

 Das liebe Geld war eines der Hauptprobleme des Ostblocks. Trotz der Vertragsmilliarden war ungelöst, wie die Sowjetunion und ihre Vasallen sich ihren Computerpark finanzieren wollten. Das Siemens-Geschäft wurde beispielsweise über eine Firma in England, die chemische Produkte aus Russland im Westen verkaufte, finanziert. Der damalige Tulip-Geschäftsleiter Franz Hetzenauer wollte im Gespräch mit Computerworld nichts von solchen Gegengeschäften wissen. Er bestand auf «harter Westwährung». 
Die Zeitung hatte sich schon früh im Jahr 1989 mit den neuen Absatzmärkten hinter dem Eisernen Vorhang beschäftigt. Bereits im Februar frohlockten die Kollegen über das «Billiglohnland für amerikanische Computerhersteller». Die Erzeugnisse könnten auch in den Vereinigten Staaten verkauft werden – dank der tieferen sowjetischen Löhne zu günstigeren Preisen, hiess es in dem Artikel. Im Gespräch der US-amerikanischen Schwesterzeitung mit Randy Bregman, Direktor der Abteilung Sowjetunion und Osteuropa der Beratungsfirma Apco Associates aus Washington D. C., wurde allerdings auch offenbar, dass es neben den fehlenden Devisen auch ganz pragmatische Hindernisse für die Zusammenarbeit gab: Auf eine Auslandsverbindung aus der UdSSR musste man bis zu acht Stunden warten. Denn die Telefonverbindungen seien schlicht unzureichend gewesen, sagte der Experte der Computerworld.

Fünf-Jahres-Plan

Trotz Glasnost und Perestroika hatte sich der Osten Ende der 1980er noch nicht vollkommen vom Sozialismus verabschiedet. Im Jahr 1985 – zeitgleich mit dem Amtsantritt von Staats- und Parteichef Michael Gorbatschow – war ein Fünf-Jahres-Plan verabschiedet worden, der auch die Computertechnologie berücksichtigte. Demnach war bis 1990 eine Produktion von 1,1 Millionen Rechner für den Schul- und Erziehungsbereich vorgesehen. Die Nachrichtenagentur Novosti bezifferte den PC-Bedarf auf 30 Millionen Stück. 
Die Importe – von Siemens, Bull, Comrac und Tulip – konnten die Lücke kaum füllen. Auch standen ihnen die restriktiven Exportbeschränkungen des Koordinationskomitees für multilaterale Exportkontrollen (COCOM) entgegen. Zwar wurde im Sommer 1989 die Ausfuhr von 80286er- und 68000er-Rechnern freigegeben. Aber am COCOM-Treffen Ende Oktober in Paris wollten die 17 Mitglieder-Nationen Computer mit den modernen 80386er-Prozessoren nicht von den Exportrestriktionen befreien. So sollte sicher­gestellt werden, dass die Staaten unter sowjetischem Machteinfluss weiterhin mit veralteter Technologie arbeiteten. 

Wahl-Computer

Mit noch ganz anderen Problemen hatte die sowjetische Regierung Anfang November 1989 zu hadern. Unter Be­rufung auf die russische Schwesterzeitschrift «PC World USSR» berichtete Computerworld, dass der neue Abstimmungscomputer im Obersten Sowjet beim ersten Test versagte. Anstatt der Anzahl «Ja»-Stimmen für Gorbatschows Antrag, die Debatte über die Tagesordnung zu beenden, zeigte der Bildschirm nur «3A» an. «Dann holt also eure alten Waffen wieder raus», sagte der Staatschef. So geschah die Abstimmung im Parlament wie bis anhin auch durch das Hochhalten von Abstimmungskarten. Nach beendeter Sitzung verlangte Gorbatschow zur Ehrenrettung der Informatik dann aber eine zweite Vorführung des Systems. Diesmal dachten die Techniker daran, den Strom einzuschalten.

Interview mit Eugene Velikhov

«Wir sind mehrere Generationen im Rückstand»

Eugene Velikhov, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften und Physiker, galt als intimer Kenner der sowjetischen Computer­industrie. «PC World USSR», eine Schwesterzeitung von Computerworld Schweiz, traf den Experten im November 1989 zum Interview.
PC World USSR: Westliche Experten meinen, dass wir im Bereich der Elektronik – wegen der Monopolstellung der Staatsbetriebe und der Bevorzugung des Militärs – einen Rückstand von fünf bis zehn Jahren haben. Was ist Ihre Meinung zur Situation in der sowjetischen Informatik-Industrie? 
Eugene Velikhov: Wir sind aus verschiedenen Gründen im Rückstand. Im Westen wurden Computer nicht nur von Grossfirmen wie IBM entwickelt, sondern auch von der Basis, von risikofreudigen Kleinunternehmen, die eigene Ideen einbrachten und für technologische Durchbrüche sorgten. Ehe wir auf IBM-Klone umstellten, hatten wir selber einen ziemlich leistungsfähigen Computer, den BESM-6. Er war nicht schlecht, seine Weiterentwicklung hätte aber einen gewissen Standard in der Fertigung von Mikroelektronik-Komponenten vorausgesetzt, der jedoch noch nicht erreicht war. Man sollte lieber Lizenzen kaufen, als sich mit der Forschung und Entwicklung zu beschäftigen. Andernfalls verliert man drei bis fünf Jahre. Der Habgierige zahlt eben zweimal. [Hier unterschätzte Velikhov die Leistung seiner Landsleute: Der BESM-6 kalkulierte während des 1975er-Apollo-Sojuz-Raumfahrt­projekts alle Telemetriedaten innerhalb nur einer Minute. Die NASA-Computer zu der Zeit benötigten dafür 30 Minuten.] 
Die Informatik-Abteilung der Akademie der Wissenschaften musste 1983 von Grund auf neu errichtet werden, nachdem die Akademie den Bereich Computer und Informatik zuvor ausgeklammert hatte. Dies war ein grosser Fehler. Die wissenschaftlichen Aspekte der Informatik wurden dadurch vernachlässigt. Es gab damals zwar Staatsunternehmen, die Computer produzierten, es mangelte aber an den wissenschaftlichen Grundlagen. 
PCW: Wie würden Sie den Personalcomputer-Markt in der Sowjetunion heute beschreiben? 
Velikhov: Unsere eigene Computerproduktion ist wie ein Eisberg: Die Spitze davon ist die Montage, der Rest sind Hardware, Komponenten und Material. Wir bauen den Eisberg von der Spitze her zusammen. Wegen der anfälligen elektronischen Komponenten produzieren wir überholte Personalcomputer und veraltete Peripheriegeräte. Ande­rerseits sind wir fähig, High-Tech-Einzelstücke und -Kleinserien zu bauen. So stellte die Akademie der Wissenschaften Personalcomputer an der Hannover-Messe aus, die stark beachtet wurden. Einige Tausend Stück davon wurden produziert. Heute produzieren wir Hardware und spezifische Anwendungen für VLSI. 
PCW: Viele westliche Wissenschaftler und Experten sind an unserer Software interessiert. Wie können Sie das erklären? 
Velikhov: Wenn wir Komponenten benutzen, die zwei Generationen im Rückstand sind, um Computer zu entwickeln, die beinahe drei Generationen zurück sind, dann sollte unsere Software eigentlich auch drei Generationen zurück sein – dank unseren enormen Anstrengungen ist dem aber nicht so. Wir haben ja zuverlässige Computer auf dem oberen Niveau und produzieren sie in Kleinserien und in einigen Software-Bereichen haben wir durchaus Chancen auf dem Weltmarkt.
PCW: Und wie steht es mit den Grossrechnern? 
Velikhov: Wir sind hier gegenüber dem Westen ernsthaft im Rückstand. Aber noch in diesem Jahr werden wir Rechner herstellen, die beinahe eine Milliarde Operationen pro Sekunde ausführen. Ich spreche vom «Elbus», der die Pipeline-Verarbeitung verwenden wird. 
PCW: Was wünschen Sie sich vom Westen, was bewirkte das High-Tech-Embargo des Westens? 
Velikhov: Das Embargo hat unsere eigenen Entwicklungen sowohl beschleunigt als auch behindert. Der Westen sollte an Kooperation mit uns interessiert sein. Wir würden gerne gemeinsam die Submikron-Technologie auf Hardware-Basis entwickeln und hätten gerne einen freien Tauschhandel mit Chips. Wir könnten Software, Algorithmen und mathematische Modelle liefern. Was wir brauchen, ist eine Öffnung des Westens und den Abbau der Handelsbeschränkungen.



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